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Rückkehr in die Philharmonie

Untertitel
Peter Michael Hamels 6. Symphonie in Berlin uraufgeführt
Vorspann / Teaser

Der Komponist Peter Michael Hamel gehört einer Generation an, die in den 1970er-Jahren einen Paradigmenwechsel in der zeitgenössischen Musik auslöste. Bereits 1980 erklang sein Orches­terstück Gestalt unter der Leitung von Gerd Albrecht in der Philharmonie. Nun kehrt Hamel mit seiner 6. Symphonie und den Berliner Symphonikern an diesen Ort zurück.

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Hamels Musiksprache wird gewöhnlich mit dem Begriff der „Neuen Einfachheit“ assoziiert. Diese Zuordnung ist jedoch wenig aussagekräftig, da sie versucht, Komponisten unterschiedlichster Stilrichtungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wahr ist jedoch, dass alle Mitglieder dieser Bewegung – wenn es denn eine ist – versuchten, nach der materialfixierten, prädeterminierenden Verfahrensweise der seriellen Musik der 50er- und 60er-Jahre einen unmittelbareren und vielfältigeren Ansatz zu verfolgen. Man denke beispielsweise an die romantische Gestik Wolfgang Rihms, die schillernden Farben der Literaturopern Manfred Trojahns, oder die selbstentwickelten Stilkopien Hans-Jürgen von Boses. Hamel, dessen Vater Theaterregisseur war, arbeitete als Bühnenmusiker für Peter Stein, schrieb Stummfilmmusik, konzertierte mit der Weltmusik-Gruppe Between und veröffentlichte mehrere Alben improvisierter elektronischer Musik. Gleichzeitig stand er in regem Austausch mit amerikanischen Kollegen wie Terry Riley oder Morton Feldman und schrieb Bühnen- und Orchesterwerke Neuer Musik im engeren Sinne. Seine auch spirituelle Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen führte ebenfalls 1980 zur Publikation des Buchs „Durch Musik zum Selbst“.

Die 6. Symphonie ist in vielerlei Hinsicht ein Werk, das diesen polystilistischen Aspekt widerspiegelt. Zum einen handelt es sich etwa im Sinne Gustav Mahlers nicht um ein rein sinfonisches Stück, sondern um eine dreisätzige Folge von Orchesterliedern mit einer ausgreifenden Bariton-Partie. Im 20. Jahrhundert findet sich diese Form beispielsweise bei dem polnischen Komponisten Henryk Górecki, dessen 3. Symphonie – ähnlich Hamels Denkweise – eine radikale stilistische Umkehr zu tonalen Strukturen und einen Bruch mit der Idiomatik avantgardistischer Musik darstellt und deshalb gewissermaßen einen Anti-Skandal auslöste.

Hamel verwendet drei Texte mit autobiographischem Bezug, die drei Arten der Suche nach innerem Gleichgewicht aus verschiedenen Kulturen und Epochen verkörpern: die erste Strophe des gregorianischen Chorals „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ in der Übersetzung Martin Luthers, das „Gelassenheitsgebet“ des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr auf spanisch, englisch und deutsch sowie Auszüge der Meditation „Es gibt einen leichten Weg Buddha zu werden“ des Zen-Buddhisten Dōgen Zenji aus dem 13. Jahrhundert. Dadurch entsteht eine  durchgehende narrative Form, die trotz aller sinfonischer Konstruktion der zyklischen Struktur einer klassisch-romantischen viersätzigen Symphonie entgegenwirkt. Hamel unterstreicht diesen Aspekt, indem er durch das gesamte Stück die klangliche Substanz der Musik von anfänglichen Konsonanzen über gelegentlich auftretende Schärfungen schrittweise in eine reichere und später mikrotonale Harmonik überführt, deren System sich an den nicht temperierten Intervallen der Obertonreihe orientiert. Diese wie zwischen zwei Welten schwebenden Klänge, die ihre innere Mitte buchstäblich in anderen Sphären finden, bestimmen den dritten Teil des Werks. Auch die Rhythmik greift häufig auf ungerade Taktarten ohne geometrische Mitte zurück und lässt immer wieder minimalistische Wiederholungsmuster zu.

Dass es sich dennoch nicht um ein musiktheatralisches Monodram handelt, liegt unter anderem in dem besonderen Verhältnis zwischen Singstimme und Orchester begründet, die eine untrennbare Einheit bilden. Hamel geht es um unverstellte, schnörkellose Direktheit. Bereits nach wenigen Takten zurückhaltender instrumentaler Einleitung beginnt der Bariton, dessen deklamatorische Linien eher einem liturgischen Ritual als einer Szene auf dem Theater gleichen. Der Gesang wird aus dem Orchester geboren und kehrt dorthin zurück. Die anspruchsvolle Partie, die Passagen im tiefen Register mit Ausflügen in die Falsett-Lage kombiniert, scheint im Orchester reflektiert zu werden, wenn dieses einen weiten Raum zwischen Bassregister und stehenden hohen Streicherklängen aufschließt, die Mittellage jedoch wiederholt leer lässt. Der Klang ist homogen, ohne Ecken und Kanten, Farbwechsel ergeben sich organisch, als handle es sich ebenfalls um eine Stimme. Nur sporadisch treten ätherische Kontrapunkte über den Gesangslinien auf. Das ist weder Begleitung noch Kommentar, sondern Projektion der Stimme in eine andere Ebene. Der Beginn, ein aus der Tiefe emporsteigender Urklang, ist ebenso offen wir der Schluss, der trotz seiner Reprisenwirkung wie freischwebend im Raum hängen bleibt. Auch die repetitiv-rhythmischen Passagen im Schlagzeug wirken wie das Pulsieren eines Zustandes, der über den gegenwärtigen Zeitpunkt hinausgeht.

Unter der Leitung Hans-Jörg Schellenbergers entfaltet Hamels Partitur ihre ganze wie aus improvisatorischem Fluss stammende Natürlichkeit. Mit großer Einfühlsamkeit vermeidet er jeglichen Effekt und lässt noch dem kleinsten musikalischen Element den ihm angemessenen Raum. Der Bariton Thomas Schütz meistert die Partie mit entwaffnender Offenherzigkeit und passt sein warmes Timbre versiert den weder Lied noch Oper zuzuordnenden Anforderungen der Musik an.

Das geschickt zusammengestellte Programm stellt einen Dialog her zwischen Hamels Werk, der fernöstlich inspirierten Pentatonik von Claude Debussys Tänzen für Harfe und Streichorchester, sowie der von Naturklängen und repetitiven Passagen durchzogenen programmatischen 6. Symphonie Ludwig van Beethovens.

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