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Sommer-Festival 2018: das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO). Foto: Priska Ketterer/Lucerne Festival

Sommer-Festival 2018: das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO). Foto: Priska Ketterer/Lucerne Festival

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Runder Geburtstag einer großen Vision

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Beim Festivalsommer in Luzern bildete die Lucerne Festival Academy einen besonderen Fokus
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Vor zwanzig Jahren startete die Lucerne Festival Academy (LFA). Hier werden junge Kräfte, Dirigierende und Komponierende in das 20. und 21. Jahrhundert unterwiesen. Kein anderes führendes Festival leistet sich eine derartige Talent-Schmiede und Musikwerkstatt. Seit drei Jahren besteht zudem eine Kooperation mit der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA). Auch sie wurde zwanzig Jahre alt. Der Tod von Wolfgang Rihm kurz vor Beginn des Lucerne Festival überschattete dieses Doppeljubiläum. 

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Die Worte waren nicht zu übersehen. Eigentlich. „Deshalb wollen wir versuchen, einen produktiven Kontakt zwischen Komponisten und Interpreten – Instrumentalisten wie Dirigenten – herzustellen“, war in großen Lettern zu lesen. „Wir müssen vor allem Neugier und Wissen teilen, die beiden wichtigsten Komponenten der Kommunikation. Der Interpret muss die Utopie des Werks verstehen, der Komponist muss sie mit der Realität der Aufführung konfrontieren.“

Mit diesen Worten skizzierte Pierre Boulez im Juni 2002 seine Mission für die von ihm und dem Lucerne-Intendanten Michael Haefliger begründete Lucerne Festival Academy. Beim offiziellen Geburtstagskonzert der Luzerner Akademie im Rahmen des diesjährigen Sommerfestivals mit Solisten des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) wurde dieses „Mission Statement“ auf eine Leinwand projiziert. Das passte nicht nur zum spezifischen Anlass des Geburtstagskonzerts, sondern auch zum diesjährigen Motto „Neugierde“ am Lucerne Festival. Eigentlich.

Denn gleichwohl schienen die Worte sich selber zu relativieren, und das war dem Ableben von Wolfgang Rihm am 27. Juli 2024 kurz vor Beginn der Sommer-Edition von Lucerne Festival geschuldet. Der Komponist war mit Luzern eng verbunden. Seit dem Ableben von Boulez im Januar 2016 wirkte Rihm, in dessen Nachfolge, als künstlerischer Leiter der Lucerne Festival Academy. In dieser Funktion hatte er die Luzerner Akademie beharrlich weiterentwickelt, mit viel Herzblut und Wissen bereichert.

Auch bei der Neuausrichtung an Lucerne Festival 2019 mit der übergreifenden Kräftebündelung in Gestalt der „Contemporary“-Schiene und dem Start des LFCO-Klangkörpers samt dem herbstlichen „Lucerne Festival Forward“ hatte Rihm eifrig mitgemischt. Für die Luzerner Akademie ist der Tod Rihms ein herber Verlust. Nur wenige Komponierende vermögen es, zeitgenössische Musik derart kenntnisreich und rhetorisch brillant zu vermitteln. Aus dem „Geburtstagskonzert 20 Jahre Lucerne Festival Academy“ wurde deshalb mehr ein Gedenkkonzert für Rihm.

Die Ansprachen von Haefliger, der LFCO-Leader-Pianistin Helga Karen sowie von Dieter Ammann und Unsuk Chin, die in diesem Jahr das „Composer Seminar“ in Luzern betreuten, machten deutlich, wie sehr Rihm eine unbedingte Freiheit lebte. Er lehnte ästhetische, stilistische Dogmen ab, forderte von den jungen Talenten ein Höchstmaß an Unabhängigkeit. Wie sehr sich Rihm selber gegen Einordnungen verwahrte, offenbarte sein „Stück für drei Schlagzeuger“ von 1989. Da kauern die Ausübenden auf dem Boden, trommeln und wirbeln zusehends rauschhaft, bis sie die Schlägel in die Luft werfen.

Es folgt eine humoristisch-groteske Performance, bei der schließlich laut gebrüllt wird. „Tiefer Tier-Brüll-Laut“, heißt es dazu in der Partitur – „schlagartig still“. Diese Seite Rihms erlebt man im allgemeinen Konzertbetrieb eher selten bis gar nicht, und auch die weiteren Werke von Boulez, der diesjährigen Luzerner Residenz-Komponisten Beat Furrer und Lisa Streich sowie die Uraufführung von Raimonda Žiūkaitė für Tuba und Lautakrobatik standen ganz im Luzerner Akademie-Geist. Es wurde eben kein kulinarisches Hochglanz-Programm kredenzt, sondern eine freiheitliche, höchst diverse Lust am Experimentieren in den Raum gestellt.

Das ist Luzern, und so war es von Anfang an. Ein Rückblick auf den Luzerner Festivalsommer 2003: Zeitgleich mit dem offiziellen Start des von Claudio Abbado und Haefliger begründeten Lucerne Festival Orchestra (LFO) wird eine „Pre-Academy“ durchgeführt. Bei diesem ersten Pilot-Projekt studiert Boulez mit zwanzig Jungtalenten kleinbesetzte Werke ein. Auch ein ers­tes „Composer Projekt“ wird in diesem Rahmen angesetzt. Ein Jahr später, 2004, geht es richtig los mit der Akademie – samt dem großen Akademie-Orchester, Proben und Sessions für Komponierende, Dirigierende und Instrumentalisten.

Viele illustre Persönlichkeiten mischen fortan mit, nicht zuletzt die jeweiligen Residenz-Komponisten des Sommerfestivals. Besondere Verdienste um die Luzerner Akademie hat zumal der im März 2024 verstorbene Komponist und Dirigent Peter Eötvös. Seither sind viele bekannte Persönlichkeiten von der „Luzerner Schule“ geprägt worden. Dazu zählen Pablo Heras-Casado, Kevin John Edusei, Johanna Malangré, Verena Schwarz, Mariano Chiacchiarini oder Simon Höfele.

Wie stark diese Prägung sein kann, offenbarte sich bei den Bayreuther Wagner-Festspielen 2023, wo Heras-Casado mit „Parsifal“ debütierte. Seine hellhörige, glasklare, farbenreich entschlackte Leitung offenbarte auch, wie sehr ihn sein einstiger Luzerner Lehrmeister Boulez inspiriert hat. Auch manche Ensembles haben sich in Luzern gegründet, so 2005 das „Jack Quartet“, und nicht zuletzt wurden in Luzern zahllose bleibende Konzert-Momente generiert. Ein Großereignis, als Boulez 2005 anlässlich seines achtzigs­ten Geburtstags die Orchesterfassung seiner „Notations I-IV“ leitete: Wie er mit den Jungtalenten arbeitete, das war eine Sternstunde.

Auch die vollständige Aufführung 2017 von Friedrich Cerhas „Spiegel I-IV“, ein Bühnenwerk für Bewegungsgruppen, Licht und Objekte von 1960, klingt bis heute genauso nach wie 2007 die ambitionierte Einstudierung von Karlheinz Stockhausens „Gruppen“ für drei Orchester oder die Aufführung 2018 von Stockhausens „Inori“ unter Eötvös. Auch die Schweizer Erstaufführung von Rihms „Sub-Kontur“ vor zwei Jahren unter Sylvain Cambreling zählt zu den Aha-Erlebnissen, und wo erlebt man Mathias Spahlingers hochkomplexes „passage/paysage“ von 1988/90? Im vorigen Jahr hatte es Residenz-Komponist Enno Poppe in Luzern dirigiert.

Das alles war am sommerlichen Lucerne Festival 2024 Grund genug, um die Akademie zum 20. Jubiläum hochleben zu lassen – und dies ganz prominent gleich am Eröffnungsabend. Erstmals musizierte nicht nur das LFO unter seinem Chefdirigenten Riccardo Chailly, sondern auch das LFCO. Am Pult stand Malangré, derzeit General-Musikdirektorin des „Orchestre de Picardie“ in Frankreich. Zum Startschuss leitete sie die Uraufführung von „Reigen“ der diesjährigen Residenz-Komponistin Streich – wie Malangré eine ehemalige Luzerner Akademistin.

Auch bei der Akademie selber gab es im Jubeljahr eine Neuheit. Erstmals wurden auch große Orchesterwerke beim „Composer Seminar“ komponiert: das geräuschhaft-theatralische „Icarus“ der Chinesin Yixuan Hu, das quasi-spektralistische „Tellurian“ des Deutsch-Briten Eden Lonsdale, das humoristische „Bogossitude II“ des Japaners Kenta Onoda sowie das filmmusikalische „Cyberpunk“ des Spaniers Jose Luis Valdivia Arias. Unter Daniel Huertas, Joséphine Korda, Yannick Mayaud und Raimonda Skabeikaitė hat die junge LFCO-Truppe die stilistische Diversität packend verlebendigt.

Für diese stilistische Offenheit steht ebenso die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA). Auch diese Institution feierte 2024 ihren zwanzigsten Geburtstag und ist ähnlich visionär wie die Luzerner Akademie. Welcher andere Klangkörper für zeitgenössische Musik hat seine Ausbildungs- und Vermittlungs-Aktivitäten derart institutionalisiert wie das 1980 in Frankfurt am Main gegründete Ensemble Modern? Hierzu wurde 2003 eigens ein gemeinnütziger Verein gegründet, der wirtschaftlich sowie rechtlich vollständig unabhängig ist.

Das besondere Filet-Stück der IEM-Akademie ist der einjährige Masterstudiengang „Contemporary Music Performance“. In Zusammenarbeit mit der Frankfurter Musikhochschule werden studierte Musikkräfte, Dirigierende, Komponierende und Klangregie-Kräfte weitergebildet. Die Kooperation mit der Luzerner Akademie besteht seit drei Jahren: eine Win-Win-Situation für alle, nicht zuletzt für den Musik-Nachwuchs.

Die Kooperation berührt die „International Composers & Conductors Seminars“ (ICCS) der IEM-Akademie. Die Studierenden reisen als IEMA-Ensemble nach Luzern, um dort den Klangkörper für das „Composer Seminar“ zu stellen. Für IEMA-Geschäftsführerin Christiane Engelbrecht bedeutet dies eine „zusätzliche Kompetenzvermittlung“, weil schöpferische Entstehungsprozesse hautnah miterlebt werden. Auch beim „Conducting Program“ werden den Studierenden aus Frankfurt wertvolle Eindrücke vermittelt, und sie können Netzwerke schließen.

Gleichzeitig reist eine Jury vom Ensemble Modern zum Abschlusskonzert des „Composer Seminar“ nach Luzern, um sich die neuen Stücke der jungen Komponierenden anzuhören und vier oder fünf Werke auszuwählen. Sie werden in Frankfurt nochmals aufgeführt: vom Ensemble Modern, im Rahmen eines „Happy-New-Ears“-Konzerts. Für die Komponierenden ist das ein „Ritterschlag“ durch ein weltweit führendes Spezial-Ensemble für Neue Musik. Auch in diesem Sommer war die Frankfurter Jury in Luzern aktiv.

Die in diesem Jahr ausgewählten neuen Werke sind: „Beauty is brief and violent“ von Che Buford, Ingrid Saldañas „Transmisión“, ein „Choral“ von Christoph Baumgarten, „To Shimmer, To Quiver, To Quake“ von Sebastian Black und Seungju Nohs „Hwik[ʍik]“. Sie werden am 3. Dezember 2024 abends im Bockenheimer Depot in Frankfurt aufgeführt, vom Ensemble Modern unter der Leitung von Raimonda Skabeikaitė. Diese Initiative rundet das singuläre Angebot der Luzerner Akademie wertvoll ab.   

Umso erfreulicher, dass diese internationale Kooperation auch nach Auslaufen der dreijährigen Förderung durch eine Stiftung fortgeführt wird. Für 2025 ist sie bereits fix vereinbart, und dass während des Luzerner Festivalsommers auch Sebastian Nordmann die Akademie-Konzerte besucht hat, ist nicht minder erfreulich. Ab 2026 wirkt er, in der Nachfolge Haefligers, als neuer Lucerne-Intendant. Auf Nachfrage versicherte er, dass er um den besonderen Wert der Luzerner Festival-Akademie weiß – und mehr noch, er war sichtlich angetan und begeistert.

Gut so, aber es stehen einige Weichenstellungen für die Zukunft an. Bei Gründung der Akademie vor zwanzig Jahren war die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit für die Moderne eine andere, und an vielen Musikhochschulen fristete die zeitgenössische Musik ein Schattendasein. Das ist heute anders. Die Luzerner Akademie muss ihr Sein und Wollen stärker in den Fokus rücken und selbstbewusst kommunizieren. Gleichzeitig wird an den allgemeinbildenden Schulen der Musik-Unterricht weiter reduziert.

Auch hier sollte die Akademie gezielt gegensteuern. Hierzu braucht es ein breit aufgestelltes Netzwerk, wie es die Akademie mit Hochschulen und Konservatorien bereits hat. Gleichzeitig sollten auch die Akademisten zusätzlich gezielt in Musikvermittlung geschult werden, um ihr eigenes, künftiges Publikum mitzunehmen. Auch die internationale Präsenz des jungen Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) kann weiter ausgebaut werden. Dass dieser wunderbare Klangkörper sich längst in die Top-Liga der Neuen Musik gespielt hat, auch das hat sich im Luzerner Sommer 2024 einmal mehr offenbart.

Das diesjährige „Forward“-Festival des LFCO steigt vom 15. bis zum 17. November. Und wie geht es mit der künstlerischen Leitung der Luzerner Akademie weiter? Der Tod Rihms hinterlässt fraglos eine große Lücke, die sich jedoch durchaus füllen ließe – auch mit Frauen. Mit Unsuk Chin, die Residenz-Komponistin am Lucerne Fes­tival 2014 war, präsentierte sich beim Auftakt des diesjährigen „Composer Seminar“ eine Persönlichkeit, die eine ähnlich großzügige Freiheit und natürliche Empathie für unterschiedliche Haltungen lebte wie einst Rihm. Es gilt, die Nachfolge umsichtig zu regeln – im Geiste von Boulez und Rihm.

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