Zwölf Mal im Jahr, jeweils am letzten Sonntag im Monat, wird die große Freitreppe der Pinakothek der Moderne in München zur Bühne. Die Idee hatte der Künstler Olaf Nicolai, der einmal über die Poetik der Wiener Gruppe promoviert hat: Nicolai arbeitet zwischen den Genres, in diesem Fall Architektur und Musik. Er fragte sich, wie sich der Raum der von Stephan Braunfels erbauten Pinakothek nutzen ließe, ohne der Kunst Konkurrenz zu machen. Insgesamt zwölf Komponisten hat Nicolai eingeladen, kurze Werke für die Neuen Vocalsolisten zu schreiben, und zwar ausgehend von aktuellen Ereignissen. Der Sänger als Zeitungsjunge? Zu Beginn des achten Programms konnte der Eindruck durchaus entstehen.
Mit kurzen, rufenden Motiven holten Sarah Maria Sun, Truike van der Poel und Martin Nagy auf drei Ebenen das Publikum ab, durchquerten und umrundeten auf verschiedenen Wegen die zentrale Rotunde, um sich schließlich auf der Treppe einzufinden: Nicolai will, dass die Aufführungen nicht zu festgesetzten Uhrzeiten stattfinden, sondern unangekündigt über den Tag verteilt. Tatsächlich begann das Programm an diesem Tag allerdings jeweils zur vollen Stunde.
Samir Odeh-Tamimis „Léxis“ ist ein kurzes dreistimmiges Lied nach dem Text „Die Farben des Wassers“ des syrischen Lyrikers Adonis, der – wohl eher Zufall – gerade den Frankfurter Goethepreis erhalten hat: „Wörter, die Beine und Häuser haben / Wörter die sterben / wenn sie schwanger sind / wir bewohnten ein Land / das sie umgarnten …“ Nein, es ist kein neues Gedicht, es entstammt der Sammlung „Ein Grab für New York“, deren Titel sich seinerseits nicht auf den 11. September 2001 bezieht, sondern bereits dreißig Jahre vorher erschien. Dem heute Einundachtzigjährigen wird vorgeworfen, sich zu den aktuellen Ereignissen in Syrien nicht deutlich genug zu positionieren. Dies ist Odeh-Tamimi durchaus bewusst, der den dichten, räumlich wie musikalisch-dramatisch sehr konzentrierten Satz zu einer beeindruckenden Klimax sich aufschaukeln lässt: Die innere Anteilnahme des Komponisten wird spürbar, der konkrete Zusammenhang zwischen der rätselhaften, surrealen Bildsprache des Gedichts und der Aktualität der Aufstände erschließt sich allenfalls demjenigen, der den Text sehr gut kennt.
Dann hätte Elliott Sharp folgen sollen, doch es gehört wohl zu den Risiken des aktualitätsbezogenen Konzepts, dass gelegentlich ein Programmteil entfällt. So blieben nur Jennifer Walshes „The Soft Menagerie“ und eine der „Distribution Studies“ von James Saunders, die Teil jedes Programms sind. Das Konzept seiner Flüsterpropaganda bleibt allerdings unausgegoren: Die Sänger sollen „so leise wie möglich“ einen Ton singen, wenn jemand an ihnen vorbei kommt, Zuhörer die Partitur mitnehmen, anderswo aufführen und dies auf der Projektwebsite dokumentieren. Zwar entwickelte sich ein Wechselspiel zwischen Sängern und Publikum, aber nur, weil erstere, abweichend von der Partitur, laut genug sangen, um die Zuhörer bei der Stange zu halten. Die sich ihrerseits für die Spielanweisung herzlich wenig interessierten.
Jennifer Walshe ging aus vom Tod ihres Schülers Daniel Beattie, der zusammen mit seiner Schwester im Juni in Florida mit einer Cessna-Sportmaschine abgestürzt ist. Das zehnminütige Stück mit den Sätzen „The Crocodile“, „The Owl“, „The Rabbit“ und „The Horse“ hat etwas von Kinder-Reimen des 19. Jahrhunderts, verwendet Verse von Edward Lear und eine minimale, auf Wiederholungen, kleinen Terzen und Sekunden aufbauende Tonsprache. Sarah Maria Sun schlägt Steine aneinander, Martin Nagy schreibt den rezitierten Text auf eine kleine Schiefertafel, Truike van der Poel zerreißt Zeitungsbögen. Manches ging im Hintergrundlärm aus der Rotunde unter. Aber vielleicht zeigt sich gerade darin der private Charakter der Trauer, die eher unspektakulär, zugleich meditativ und schwerelos einen Teil der Treppe vorübergehend besetzt.