Leider erweist sich Fromental Halévys Grand Opéra von 1834 gerade dieser Tage wieder als „Zeitstück“. Leider ist alles „wieder da“ und damit aktuell: Die Grundspannung in Gesellschaften mit Todesstrafen für demgegenüber entrechtete Individuen, auch der Gewaltcharakter von zu realen Herrschaftsinstrumenten verkommenen Religionen – in all dem können sich Emotionen schockhaft entladen, in dramatischer Musik und aufgeladenem Gesang. Davon war in Frankfurts Oper Expressives zu hören.
Sänger retten Szene – Tatjana Gürbaça inszeniert Halévys „La Juive“ an der Oper Frankfurt
In Eugène Scribes Libretto ist das Konstanzer Konzil von 1474 Kulisse. Im Zentrum stehen der jüdische Goldschmied Éléazar, der am katholischen Feiertag provokant arbeitet. Seine Ziehtochter Rachel ist in Wahrheit die Tochter seines Gegenspielers, des früheren Magistraten und jetzigen Kardinals Brogni. Dass der Jude sie als Kind aus dessen brennendem Haus gerettet und als Jüdin erzogen hat, bleibt lange sein Geheimnis. Gegen Brogni empfindet Éléazar Hass, da dieser seine beiden Söhne hinrichten ließ. Als herauskommt, dass der Geliebte von Rachel der verheiratete christliche Reichsfürst Leopold ist, der sich in neu entflammter Liebe bei ihr als Jude Samuel ausgegeben hat, werden beide zum Tode verurteilt. Während Rachel ins Feuer geht, verrät Éléazar dem Kardinal, dass dieser gerade seine eigene Tochter hinrichten ließ. Die Rache des Gedemütigten hat gesiegt …
Halévy-Scribe haben eine dramaturgisch überzeugend gebaute Grand Opéra mit reizvoll wechselnden Schauplätzen geschaffen. Dafür einigten sich Regisseurin Tatjana Gürbaça sowie das Bühnenbild-Duo Klaus Grünberg und Anne Kuhn auf ein weißes, nach oben fliehendes Gebäudeskelett mit Treppen und Gängen, folglich umständliche Chor- und Statisten-Auftritte (Regie-Handwerk?). Dieses Mauergerüst erwies sich als starres Korsett und wurde von Grünberg allzu schlicht und banal ausgeleuchtet, Liebesduett, Pessach-Fest oder Kaiser-Auftritt blieben „blass“. Im Vordergrund schwelte und rauchte ein heruntergebrannter Scheiterhaufen weiter – doch ein Rachel-Stunt-Double stürzte am Ende aus dem Bühnenhimmel in den rot ausgeleuchteten Raum (Konzept?). Gürbaça will so etwas wie „zeitlose Gültigkeit“ und mischte für fast alle Figuren, einschließlich Chor, Alltagskleidung mit historischem Kostüm und „Charakterisierendem“. Also macht Kostümbildnerin Silke Willrett aus der Kaisernichte Eudoxie eine Modepuppe aus einem „People“-Magazin; sie lässt sich von Éléazar geziert die Stilettos ausziehen, die Füße massieren (ein Anklang an christliche Fußwaschung?) – und muss sie sich dann nebenbei wieder selber anziehen (Regiehandwerk?). Rachel wird von Eudoxie als Hure mit Netzstrümpfen und rotem Herz auf dem Reizwäsche-Short kostümiert (Danke! Verstanden!). Der betrügerische Liebhaber Leopold ist als siegreicher Hussitten-Besieger erst mit Wadenstrümpfen in Karo-Muster als Familienvater (hinzuerfunden: zwei Kinder mit Eudoxie), später mit einem absurden Gold-Kostüm charakterisiert … die Aufzählung könnte weitergehen … Ergebnis: der tödliche „Culture-Clash“ von Christen- und Judentum, von Versöhnung und Rache, Liebe und Lüge fand nicht statt.
Die Solisten machten ihre großen Szenen dann zu bannenden Phasen. Monika Buczkowska gab Eudoxie leidenschaftliche Töne. Gerard Schneider verströmte Tenor-Lyrik für den Liebhaber und besaß auch ein bisschen Markanz für den Feldherren. Ambur Braid sang die Rachel souverän strahlend auch über Ensembles hinweg, war aber als Figur in ihrer Zerrissenheit viel zu wenig geformt. So hinterließ das Drama der beiden „Väter“ stärksten Eindruck. Bass Simon Lim konnte dem Kardinal Brogni zunächst noch wenig, dem Vater, der hört, dass seine Tochter noch lebt, dann in einer bewegenden Hoffnungs-Verzweiflungsszene bannendes Profil geben. Da fesselte auch der Vokal-Kontrast zum robusten Tenor von John Osborn als Éléazar, der das Selbstbewusstsein, den Behauptungstrotz, das lebenslange Doch-Zurückstehen und dann das rachelüsterne Auftrumpfen in vielfarbige Gesangslinien fasste. Seine Szene, als er im „Gefängnis“ (Bühnenbild?) aus seinem Hemd und Jackett das Kleinkind Rachel formt und singend in den Armen wiegt, war einer der wenigen Höhepunkte. Denn meist hörte sich Dirigent Henrik Nánási nicht entschlossen an, der Szene einen musikdramatischen Feuerflug entgegenzusetzen. So gab es zwar viele Feinheiten und Reize der reichen Partitur zu hören. Doch Nánási setzte zu viele kleine Pausen, drängte nicht, forderte und „fetzte“ nicht. Für ihn und alle Solisten einhelliger Beifall, erstaunlich wenig Buh im Musiktheater-Frankfurt für das Inszenierungsteam.
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