Eine Vielfachfeier: Die Wiederentdeckung eines zu Unrecht aus dem Repertoire gefallenen Werkes; die 25jährige Erfolgstory der Theaterakademie August Everding; das abermalige Zusammenwirken von Studierenden, Bühnenprofis und Münchner Rundfunkorchester samt Unterstützung durch die auf französische Musikausgrabungen spezialisierte Stiftung Bru Zane – Ergebnis: ein einhellig gefeierter Erfolg. Wolf-Dieter Peter mit Einzelheiten.
„Vendetta“ war bis ins 20.Jahrhundert ein prägendes Strukturmerkmal der Einwohner Korsikas: vermeintliches oder echtes Unrecht vergelten bis zum „Blut für Blut“ – todbringende Familienfehden über Generationen hinweg. Was Pietro Mascagni 1889 anhand der sizilianischen Bauernehre in „Cavalleria rusticana“ gestaltete, fanden Camille Saint-Saëns und sein Librettist Lucien Augé de Lassus auch auf Napoleons Herkunftsinsel. 1904 kam der Auftrag des Fürsten von Monte-Carlo, 1906 fand die erfolgreiche Uraufführung statt – doch Saint-Saëns wurde von den maßgeblichen Pariser Musikkreisen als „Symphoniker“ eingestuft: „L’Ancêtre“ geriet in Vergessenheit.
In drei Akten von rund 90 Minuten Dauer, also wie jetzt gut pausenlos durchspielbar, wird die blutige Fehde zwischen den Pietra Nera und den Fabiani vorgeführt. Unversöhnlich fordert Nuntiata, die herrisch auftretende Ahnfrau der Fabiani, die blutige Fortführung. Ein die Bienen – Napoleons Wappentier! – als Beispiel für Zusammenwirken und Zusammenleben besingender Eremit versucht zu vermitteln. Doch als Tebaldo, ein Pietra-Nera-Ziehsohn als kriegsbegeisterter Soldat Napoleons zurückkehrt, prallen Vendetta und Liebe aufeinander: aus Margarita, seiner Fabiani-Gespielin der Kinderzeit, ist eine junge Frau geworden – und die Liebe bricht auf. Was zunächst wie eine Parallele zu „Romeo und Julia“ scheint – Margaritas Bruder soll auf Geheiß Nuntiatas Tebaldo töten, wird aber von ihm erschossen -, bekommt eine andere tragische Wendung: die unerbittliche Familientyrannin Nuntiata fordert nun von Vanina, der Schwester Margaritas, den Todesschuss auf Tebaldo. Nach langem Ringen und aus heimlicher Liebe zu Tebaldo verweigert sich Vanina, gibt der rachsüchtigen Mutter das Gewehr zurück – und diese, halb blind vor Hass, schießt auf das fliehende Schemen – doch es ist nicht Tebaldo, sondern die eigene Tochter Vanina. Gleichzeitig ermöglicht der Eremit den jungen Liebenden den Ausbruch aus den Insel-Verstrickungen und den Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben.
Saint-Saëns führt in die ja bis heute gerühmte Natur Korsikas ein, lässt die Lerche per Flöte trillern; zu Tebaldos Napoleon-Verehrung blitzen kurz Trompeten-Fanfaren; mehrfach summen die Bienen in den Streichern; dramatische Orchestertutti charakterisieren Nuntiatas Unerbittlichkeit und den Tod des Sohnes; Margaritas Lebensfreude strahlt in einer lieblich ausschwingenden langen Vokalise; der Chor der sich duckenden Dorfgemeinschaft ergeht sich in Lamento-Linien. Diese musikdramatische Vielfalt machte das farbenreich aufspielende Rundfunkorchester unter Matthias Foremnys differenzierter Leitung hörbar. Ist das erste Wiedersehen Margaritas mit Tebaldo noch als scheues Duett gestaltet, so wird ihr vom Eremiten gesegneter Aufbruch zum schwelgerisch blühenden Terzett. Als ein dramatischer Gipfel erweist sich die Verschränkung des Hass-Duetts von Nuntiata mit Vanina mit dem abermaligen Liebesschwelgen von Margarita und Tebaldo - und dazu kontrastiert eine überzeugende Soloszene, in der Vanina sich ihren Widerstreit zwischen Tebaldo-Anschwärmerei und Tötungspflicht von der Seele singt. Das gelang der Noch-Studentin Céline Akçaĝ anrührend: eine Mezzosopranistin „mit viel Zukunft“. Insgesamt war kein vokaler Bruch zwischen den Studierenden Jeong Meen Ahn (Eremit), Milena Bischoff (Margarita) oder Damien Gastl (Schweinehirt) hin zu Gast-Tenor Thomas Kiechle (Tebaldo) zu hören. Für die tödliche Schärfe der titelgebenden Ahnfrau Nuntiata brauchte es eine „reife“ Künstlerin – und das war Gastsopranistin Heike Grötzinger.
Für das tod-durchwaberte Drama hatte Regisseurin Eva-Maria Höckmayr als ihre eigene Bühnenbildnerin eine in Bann schlagende Idee: im dunklen, leeren Bühnenraum hingen Dutzende leere Kostüm-Kleider-Hülsen wie Schemen der Vorfahren, die mal bedrängend herabfuhren und sich wieder nach oben verflüchtigten. Ein „Mitten im Leben sind wir auch von unseren Toten umfangen“ beschwor dieser, in oft gespenstisches Licht (Matthias Schaaff) getauchte phantastische Realismus. Den engen, stetig wiederkehrenden Kreislauf des Lebens formte Höckmayr in kreisenden Gängen und Läufen. Bei der Erinnerung an ihre Kindheit tollten Tebaldo, Margarita und Vanina als Kinder-Doubles durch den Raum; der tote Bruder konnte bedrohlich wieder aufstehen. Ein gleichnishafter Alptraum von „Toten auf Urlaub“ umfasste alles und verdichtete das musiktheatralische Erlebnis eindringlich. Nach kurzem Schweigen einhelliger Jubel für eine Entdeckung, mit der sich die Theaterakademie zum Jubiläum zurecht schmücken kann.
- Vier weitere Vorstellungen bis 30.März; am 28.April sendet BR Klassik eine Aufzeichnung.