Es ist die achte „Salome“ von Richard Strauss am Uraufführungsort, der Semperoper Dresden, seit 1905. Beobachtet an der Gelassenheit im Zuschauerraum lässt sich heute dort niemand groß erschüttern durch die Persönlichkeitsnöte einer Prinzessin von Judäa und den Weiten ihrer geschädigten Psyche. Michael Schulz, Generalintendant des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen, zergliedert die Orientierungslosigkeit der Kindfrau. Jennifer Holloway triumphiert bei ihrem umjubelten Rollendebüt als Backfisch ohne Chancen.
Salome will gar nicht heraus aus ihrem Kinderzimmer, von Dirk Becker ausgestattet mit Bett, rosa Wand und einem Riesenschrank. Hier findet sich alles: Barbie- und Fetisch-Couture für jedes Alter und jeden Spaß. Kein Wunder, dass Salome in Distanz zur dauergeilen Partymeute nebenan lieber graue Maus bleibt und sich mit einem Clown – der Page – und einem riesengroßen Teddy – das ist Narraboth, der schöne Syrer – verbarrikadiert. Doch die alkohol- und sexlüsterne Meute entert Salomes Spieleparadies und entwürdigt dieses zum Playroom: Vor allem die zögerlich-gierige Herodias in Goldblond mit ihrem appetitlichen Begleiter (Axel Kutschbach), der sich freiwillig zum blutverschmierten Henker Jochanaans macht. Dazu der absichtlich weich-profillose Herodes, Lance Ryan hüllt seine große Statur in ein knallrotes Kleid. Dazu kreiert die Choreografin und Off-Queen Koko La Douce Kabarettistisches: Ein Tanz ohne sieben Schleier und dafür sechs Erotikikonen, alle blond wie Salome und alle im Revuefummel. Salome geleitet Herodes in dessen eigenes kleines Reich der Sinne und zieht sich aus der Rolle als Mitspielerin heraus. Weder ihr wie Zunder abgehender Stiefvater Herodes noch der diakonische Jugendtherapeut Jochanaan gewähren ihr Zuwendung oder Wertschätzung. Nicht in Palästina zur Zeitenwende und nicht in der hier gezeigten Parallelwelt des aufgeklärten 20. Jahrhunderts, die sich an den Gipfelpunkten des Endspiels in eine blaue Weite öffnet.
Salome verschanzt sich hinterm blauen Tanzkleid von Disney’s Cinderella. Sie nimmt Jochanaans Haupt im blutigen Laken aus einem Geschenkpaket, wie die sich zuhauf an der Hinterwand türmen. Die Schleife wickelt sie ordentlich zusammen, bevor sie das Haupt endlich küsst – und danach? Da bettet sie es mit den Gelüsten des Herodes auf ihrem Bett. Der Teddy-Narraboth ist schon längst verreckt mit Riesenriss in der Flauschhülle, die Leiche des Mannes fällt aus dem Schrank. Das war wohl das Ende von Salomes schrecklicher Kindheit und Aufbruch zu den sexuellen Neurosen ihrer Eltern.
Die Soldaten und Nazarener schauen so aus, als wollten sie gleich zum CSD nach Köln, alle anderen Kostüme von Renée Listendahl zielen auf Trash oder wenig trautes Heim. So ist es unausbleiblich, dass Salome sich an den noch am ehesten sympathischen Jochanaan heranschmeißt. Markus Marquardt – ganz trockener Zivilisationstheoretiker – schaut aber lieber ins Buch, ignoriert ohne einen Funken innerer Anfechtung Salomes Liebes-, Lust- und Zärtlichkeitssehnsucht. Zahm tönen die Predigten dieses Anti-Propheten, der bleibt und nicht – wie komponiert – die abgeschiedene Tiefe sucht. Symbolische Abgründe der Partitur und ihrer Farbschattierungen, die Mehrdeutigkeiten des Textes bleiben weithin im Verborgenen. Oscar Wildes und Richard Strauss‘ schillernde Kindfrau schrumpft zum verhaltensauffälligen Backfisch. In Dresden konturiert man aus der Verführungskraft dieses Musikdramas lediglich die pädagogische Panne mit klaren Versagensmustern.
Es bedarf hier für Salome wirklich starker Selbstverleugnung ihres sängerdarstellerischen Potenzials. Immer wieder muss Jennifer Holloway im Getümmel des kruden Intimcocktails verschwinden: Bei der Begegnung mit Jochanaan im weit aufgerissenen Bühnenraum darf sie sich räkeln und Beine spreizen. Den Kopf des korrekten Systemkritikers fordert sie auf dem Schoß ihres Stiefvaters sitzend. Und ihrer Mutter Herodias ist offenbar nicht klar, wozu sie das blässliche Kind instrumentalisieren will.
Omer Meir Wellber legt die Freude über sein Dirigat am Ort der Uraufführung vor allem in die Konversationsszenen. Viele Orchesterfarben kommen in schönen Mischungen aus dem Graben – und mehr schön als wild, bohrend, drängend klingt der ganze Abend. Für das nach Kräften bemühte Gieren und Girren auf der Szene ist der gepflegte Klang der Sächsischen Staatskapelle eher mäßigende Seebrise als enthemmender Wüstensturm. Die Forte-Steigerungen für Salomes Schlussgesang wirken deshalb wie das späte Zugeständnis an die Sängerin der Titelrolle, die da endlich ausholen darf. Selten wohl hat eine Salome so lyrisch tragfähige Höhenbögen und bewältigt zugleich – Resultat von Holloways Vorleben als Mezzosopran - so selbstverständlich ehrlich und ungetrickst die Tiefenregionen.
Lance Ryan schickt den Herodes ganz auf sängerischen Fittichen zum Olymp der erotischen Visionen, Christa Mayer kreiert als Herodias mit großartiger Diktion und starkem Mezzo ein Porträt von starkem Eigencharakter. Die Meriten von Christina Bock (Page) und Daniel Johansson (Narraboth) bleiben eher im Hintergrund. Georg Zeppenfeld – eine dem Rang des Hauses angemessene Luxusbesetzung – als erster Nazarener und Martin-Jan Nijhof seien stellvertretend genannt für die allesamt gut bis sehr gut besetzten Nebenrollen.