Seit vielen Monaten arbeiten Dozenten und Studierende der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ an dieser Studioproduktion zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht. Zur Uraufführung gelangten die beiden Kammeropern „Letzte Tage Lodz“ von Juheon Han und „Freiberg“ in drei Teilen von Dariya Maminova (geb. 1988), Ido Spak und Max-Lukas Hundelshausen (geb. 1991). Ein Triumph des kalkuliert emotionalen Musiktheaters.
Dieser Bekenntnis-Kraftakt fällt durch Anspruch, Aufwand und Anforderungen aus dem Rahmen: Seit vielen Monaten bereitet die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ diese Studioproduktion von zwei Opern zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht vor. Bei der Uraufführung des Kooperationsprojekts mit dem Deutsch-Russischen Zentrum saßen die Sächsischen Staatsministerinnen Petra Köpping und Eva-Maria Stange sowie Avi Primor, ehemaliger deutscher Botschafter Israels, im Publikum.
Die Idee hatte der Leipziger Alumnus, Regisseur und Autor Markus Gille. Nach Berichten Überlebender und umfangreichen Recherchen in Israel schrieb er die beiden Textbücher, die in den allerletzten Momenten des Weltkrieges auf einem Bahnhof im Erzgebirge und in einem Versteck im Ghetto Lodz spielen. In Markus Gilles zum Basisverständnis unverzichtbarer Einführung vor den Vorstellungen geht es vor allem um die Bühnenhandlung und seine umfangreichen Recherchen über Zeitzeugen des Holocaust. Dabei wird dieser Abend getragen vor allem durch die Musik, die nach der Pause immer mehr in den Vordergrund tritt. Musik nicht als Handlungstreiber, sondern als Affektträger. Szene und musikalischer Gehalt zwingen den Hörer zu einer emotionalen Reise in die Abgründe des 20. Jahrhunderts. Sie tut das in den drei „Freiberg“-Akten von Dariya Maminova („Das Kind“), Ido Spak (“Flaschenpost“) und Max-Lukas Hundelshausen („Die weiße Stadt“) mit fast rauschhafter, sehr freier Tonalität. Doch bei der Entschlüsselung der Figuren und dem, was sich hinter deren Affekten verbirgt, lässt Gille sein Publikum weitgehend allein. Es geht vor allem um das Leiden, das mit starken Affekten auskomponiert wurde. Historische Bezüge sind in Gilles epischen Inszenierung und aufgrund mangelnder Textverständlichkeit nur äußerst schwer erkennbar.
Dabei ist der Aufwand raumsprengend wie der Inhalt. Auf der linken Fläche der Black Box sitzt ein großes Kammerensemble, die Stimmen der Schola Cantorum Leipzig und der Solisten des Freiberger Kammerchores dringen aus dem Vorraum. Eigentlich hätte diese Uraufführung als Koproduktion mit dem Mittelsächsischen Theater Döbeln-Freiberg ausgewiesen werden müssen, wo sich das Leitungsteam um ein Gastspiel bemüht. Von dort kommen Juheon Han, der Dirigent und Komponist des ersten Stücks, und der Bariton Andrii Chakov. Ihm hat Juheon Han ein zwanzigminütiges Strophen-Gebilde, das eindeutiges Moll kaum verlassen will, in die wohltönende Mittellage komponiert. Das Solo, hier in der Kammerversion für Klavier und Violine anstelle der großen Orchesterbesetzung, zeichnet mehr die Gedankenspirale des Wartens als die Bedrohung durch Nazischergen, die mit Spürhunden die verborgensten Schlupfwinkel ausheben. Mauerelemente und ein Seitenraum, wo in und an einer bronzenen Truhe die Familie des verfolgten Architekten kauert, sind in Christine Gottschalks Bühnenraum eine Spur zu dekorativ. Orli Baruchs Kostüme fangen dagegen den verlorenen Wohlstand und die Entwürdigung mit sinnvollen, ganz einfachen Mitteln ein. Beeindruckend sicher und konditioniert sind alle Solistinnen aus dem Leipziger Masterstudiengang Gesang und Na'ama Shulman als Gast aus Israel. Die Herausforderung durch diese Parts, in denen es um Lebensgefahr, Verlust, Mord und den allgegenwärtigen Gedanken an das Ende geht, sind immens.
Der Sog in die Betroffenheit ist groß, doch schon beim starken Schlussapplaus wird die Erinnerung an die gehörte Musik brüchig. Das liegt auch daran, dass im 60-minütigen „Freiberg“-Teil auf Dariya Minonovas eher deklamatorisch-kleinfaserige Komposition zwei kantatenhaft geweitete Großformen folgen, die den jungen Stimmen beträchtliche Reserven abfordern. Da wird offenbar, dass sowohl „Letzte Tage Lodz“ wie auch „Freiberg“ eigentlich keine Bühnenwerke sind. Der als Uraufführungsdirigent erfahrene Ulrich Pakusch hält die Solisten und das gewandte, mit einigen Musikern aus Freiberg erweiterte Instrumentalensemble souverän zusammen.
Das muss so sein und trotzdem kristallisiert sich gerade dadurch heraus, dass man es hier eine Spur zu eloquent und kalkuliert auf die Betroffenheit der Hörer absieht. Zunehmend wird aus dieser Vermutung Gewissheit und deshalb verflüchtigt sich die Unbefangenheit. Der Textdichter und Regisseur Markus Gille greift mit zu großer Selbstsicherheit nach Gefühlen und verbaut sich so die ehrliche Überwältigungsenergie, weil er der Weg zur Betroffenheit mit spürbarem Druck erzwingen will. Die HMT zeigt als Rahmenprogramm eine von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Jerusalem (Israel) konzipierte Ausstellung – wider das Vergessen!