Zwei Jahre vor dem Beethoven-Jubeljahr 2020, in dem Bonn gerne zum Zentrum der Klassik-Welt würde, gibt sich die Stadt wenig einladend. Das Zentrum ist eine riesige Baustelle, das Münster ist seit einem Jahr geschlossen und der Bahnhof befindet sich in katastrophalem Zustand. Die dortige Dauer-Baustelle kommt nicht vom Fleck, gesperrte Gleise, Umleitungen und das übliche Missmanagement der Deutschen Bahn bescheren auswärtigen Besuchern des soeben gestarteten Beethoven-Fests einen abschreckenden Empfang.
Und wer sich auf die Internetseite des Beethovenfests verlässt und die dort angegebene Adresse der Aula der Universität zum Konzert ansteuert, landet schon wieder in einer Baustelle, die sich als Sackgasse entpuppt und muss einmal um den ganzen Block laufen, um den Eingang zu finden. Das kann eigentlich nur noch besser werden?
Mit der Aula ist auch schon eines der großen Probleme des nahenden Jubiläums erreicht, denn die Stadt hat keinen funktionierenden Konzertsaal mehr. Aller Voraussicht nach wird die lange verschleppte und nun stockende Generalsanierung der maroden Beethovenhalle wohl erst im Laufe des Festjahres fertig werden. Ganz zu schweigen davon, dass der ursprünglich diskutierte Plan eines würdigen Neubaus 2015 endgültig beerdigt wurde.
Festivalmotto „Schicksal“
Wie prophetisch und mahnend liest sich so das diesjährige Festivalmotto „Schicksal“. In der Aula der Universität holt Festival-Intendantin Nike Wagner im Festvortrag am Eröffnungswochenende weit aus, um das Motto einzukreisen und seine Auswirkungen auf die Programmatik zu erläutern. Der Begriff Schicksal sei ja wegen seines pathetischen Untertons aus der Mode gekommen, erlebe derzeit aber wieder eine unerwartete Konjunktur, stellt Wagner leicht ironisch fest. Denn neuerdings würden gerade in der Politik wieder Schicksalsgemeinschaften beschworen, wie etwa jene zwischen CDU und CSU. Dann dekliniert sie von den Lehren der Stoiker bis hin zu postmoderner Philosophie die Wandlungen des Begriffs pointiert durch und betont: „Sie werden beim Beethovenfest 2018 viele Werke hören, die deutlich von der Politik als einem Schicksal erzählen.“
Eine Auswahl aus Mauricio Kagels „Zehn Märsche(n) um den Sieg zu verfehlen“ unterstreicht diese Stoßrichtung, noch entschiedener politisch gibt sich dann der zweite Teil des Konzerts mit Paul Griffiths Beethoven-Überschreibung „The General“, einer Montage von Teilen aus Bühnenmusiken Beethovens mit aktuellen Texten, die sich aus dem autobiographischen Bericht des kanadischen UNO-Generals Roméo Dallaire „Shake Hands with the Devil“ speisen, in dem Dallaire seine Erfahrungen im Angesicht Völkermords in Ruanda verarbeitet. Nach der „Egmont“-Ouvertüre erklingen in dieser dichten und packenden Montage Zwischenmusiken, ariose Lieder und Melodramen Beethovens, verbunden durch Sprechertexte, die Griffith aus den Erinnerungen des Generals destillierte. Dirk Kaftan am Pult des Beethoven Orchesters stimmt einen furios kämpferischen, scharf zugespitzten Beethoven an, das Orchester sitzt auf der Stuhlkante, Sophia Brommer (Sopran) betört mit schmelzenden Legati und Markus Meyer trifft als Sprecher einen berührend ernsten Ton. Ein starker Auftakt.
Lässiger geht es abends im World Conference Center zu: Die Spielstätte liegt im Museumsviertel in einer abendlich verwaisten Geisterstadt und atmet die Anonymität internationaler Konferenzarchitektur. Die Akustik neigt zu trockener Dumpfheit und Dirigent Mikhail Pletnev setzt am Pult des Russischen Nationalorchesters auf demonstratives Understatement. Für Rossinis Ouvertüre zu „Guillaume Tell“ gibt er nur sparsamste Zeichen, woraufhin Rossinis sprudelnde Energien unterspannt klingen. Entschieden mehr Zug hat dann Schumanns immer noch verkanntes Violinkonzert, das Renaud Capuçon mit herrlich warmen, seidigen Ton ganz verinnerlicht spielt und selbst dem vertrackten letzten Satz die sich anbietende Virtuosengeste verweigert.
Tradition der Niederrheinischen Musikfeste
Tags darauf erinnert ein großes Chor- und Orchester-Konzert an die legendäre Tradition der Niederrheinischen Musikfeste, die vor genau 200 Jahren gegründet wurden und insgesamt 112 Mal im Rheinland stattfanden. Das mehr als zweieinhalbstündige Konzert erinnert in seiner Dramaturgie auch an die Ausdauer des damaligen, sich gerade formierenden bürgerlichen Musikpublikums, das ausufernde Programme schätzte und umrahmt Beethovens Siebte mit zwei geistlichen Werken.
Noch plastischer als am Abend zuvor wird das akustische Defizit des Saals nun beim Auftritt des Orchesters Rheinton, das unter der Leitung des Kölner Alte-Musik-Spezialisten Christoph Spering auf alten Instrumenten spielt, die ein wesentlich gedeckteres Klangspektrum erzeugen als moderne Instrumente und mehr als diese auf eine transparente Akustik mit komfortablen Nachklang angewiesen sind.
Unter dem topfigen Saal, in dem alles irgendwie gedrosselt klingt, leidet nun insbesondere Beethovens Siebte, die Spering mit flotten Tempi angeht, auf maximale Durchhörbarkeit setzt und auch Momente rauer Zuspitzung nicht scheut. Die schnellen Sätze nehmen so ungewohnt leichte Fahrt auf, überraschen mit neuen Pointen und gewitzten dialogischen Passagen bei den Holzbläsern, die Spering penibel herauspräpariert. Im letzten Satz, dem das berühmte Wort von der Apotheose des Tanzes anhaftet, beschleunigt Spering bis fast an die Grenzen des Machbaren.
Leichter haben es an diesem Abend die Chorwerke, auch deshalb, weil Spering mit dem Chorus Musicus Köln und dem Bonner Kammerchor eine große Besetzung auffährt, die dem trockenen Raum trotzt. In Felix Mendelssohns 114. Psalm „Da Israel aus Ägypten zog“ entwickeln die Chöre einen schlackenlosen und frisch timbrierten Mischklang, der Mendelssohns überwiegend in sanften Tönen predigende Chorsätze mit schönster Emphase ausstattet.
Ferdinand Ries’ zweiteiliges Oratorium „Der Sieg des Glaubens“
Nach der Pause dann eine Rarität: Ferdinand Ries’ zweiteiliges Oratorium „Der Sieg des Glaubens“, das 1829 beim Niederrheinischen Musikfest in Aachen zur Uraufführung kam. Ries war ein Schüler Beethovens und später sein Biograph. Als Komponist steht er zwischen der auslaufenden Wiener Klassik und der frühen Romantik, häufig blitzen Erinnerungen an Haydn, aber auch an Weber auf. Das Oratorium feiert etwas langatmig und arg konfliktarm mit vielen rauschenden Chören den Sieg der Frommen über die Ungläubigen. Dennoch ist es ein durchaus reizvolles Werk, das mit einfallsreichen Melodien und farbiger Instrumentierung überzeugt und mit originellen Wendungen und Takt-Wechseln überrascht. Spering geht die Sache energisch an, strafft und strukturiert, so dass der weihevolle Ton wohltuend ausnüchtert. Die Chöre singen famos, das Solistenquartett mit Robin Johannsens silbrigem Sopran, Marion Ecksteins sattem Mezzo und Corby Welchs lyrischem Tenor bietet Exquisites. Nur der Bezug zum politisch verstandenen Festivalmotto „Schicksal“ will sich mit diesen frommen Tönen nicht recht einstellen. Dennoch großer Applaus.