Das Durchschnittsalter der Komponisten folgender Uraufführungen liegt bei 72 Jahren: Die WDR-Reihe „Musik der Zeit“ präsentiert am 1. Juli von Thomas Kessler (geb. 1937) „Utopia II“ für Orchester mit Stimmen und Elektronik. Tags darauf widmet die Kölner Gesellschaft für Neue Musik in der Kunst-Station Sankt Peter ihrem verstorbenen Gründungsvorstand Johannes Fritsch (1941–2010) ein dreiteiliges „In Memoriam“-Konzert mit posthumen Uraufführungen von „Dunkles Denken“, „Viola Duo“ und des Streichquartetts „Nachtstück“. Die Reihe „musica viva“ des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz platziert in ihrem letzten Saisonkonzert am 8. Juli Premieren von „O bosques – Oh Wälder“ für Sopran, Chor und Orchester von Hans Zender (geb. 1936) sowie „Wie kannst Du ohne Hoffnung sein“ für Vokalgruppen und Orchester von Udo Zimmermann (geb. 1943). Und anlässlich seines 75. Geburtstags erhält Zender am Rande der Uraufführung seiner „Logos-Fragmente VII und VIII“ beim Festival „Europäische Kirchenmusik“ im Helig-Kreuz-Münster Schwäbisch Gmünd am 28. Juli den Preis der Europäischen Kirchenmusik. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Szene der Neuen Musik in Deutschland sei eine einzige Feier des Altbekannten und Bewährten, bestehe nur aus Altmeistern, Retrospektiven, Preisverleihungen und Porträts für Verstorbene und Jubilare anlässlich runder oder halbrunder Geburtstage. Wie langweilig, retrospektiv, nostalgisch, gegenwartsblind, vergangenheitsverliebt, zukunftsscheu! Wo bleibt da das Neue der Neuen Musik?
Wo sind die Jungen? Wo spielt der Nachwuchs? Wo werden die Grundlagen für die Musik der nächsten 20 Jahre gelegt? Und wo lässt sich dieser Umbau erleben? Bei den großen Uraufführungsfestivals in Donaueschingen und Witten sind junge Komponisten zweifellos auch vertreten, ebenso bei „Éclat“ in Stuttgart oder „Ultraschall“ und „MaerzMusik“ in Berlin. Doch sind sie dort nur eine kleine Minderheit gegenüber den dominierenden Komponisten der älteren und mittleren Generation, sofern man die 50- und unter 60-jähigen Komponisten nicht – wie durchaus üblich – krampfhaft zu den „Jüngeren“ zählt.
Neugieriger und mutiger als viele renommierte Veranstalter und Rundfunkreihen agieren oft ausgerechnet die vielen kleinen Initiativen und freien Ensembles, die sich trotz knappster Finanzmittel vielerorts mit großem Engagement um den Nachwuchs verdient machen, die aber wegen ihrer Kleinteiligkeit und punktuellen Erscheinung kaum öffentliche Beachtung finden. Die zumeist von den Komponisten selbst und ihren Interpreten in Eigenregie organisierten Uraufführungen werden über deren jeweilige lokale Zirkel hinaus gar nicht erst publik, so dass sie auch in dieser Kolumne nicht auftauchen, während Auftritte und Novitäten der etablierten Namen von potenten Verlagen und Großveranstaltern massiv beworben werden. Freilich, auch bei den Darmstädter Ferienkursen lassen sich die Jungen kennenlernen, und natürlich an den Musikhochschulen verstreut bei Klassenabenden. In den Niederlanden gibt die Gaudeamus-Musikwoche, die dieses Jahr vom 4. bis 11. September in Utrecht ein volles Dutzend Uraufführungen von nach 1979 geborenen Komponisten aus ebenso vielen Ländern präsentiert. Doch wo in Deutschland gibt es ein überregional ausstrahlendes Festival für die Jungen? Wo gibt es ein solches Schaufenster der Musik der Zukunft?
Weitere Uraufführungen
8.7.: Jakub Sarwas, Neues Ensemblewerk, Jubiläumskonzert 25 Jahre Ensemble Aventure, Elisabeth Schneider Stiftung Freiburg
Katharina Klement, Jenny Savange, Franziska Windisch, „Stücke für vier Lautsprecher in vier Ruderbooten“, 17. BrückenMusik Köln
9.7.: Christian Muthspiel, Konzert für E-Gitarre und Orchester, Staatsoper Hannover
Wolfgang Rihm, „Eine Straße, Lucile“, Szene für Sopran und Orchester nach Georg Büchner, Badisches Staatstheater Karlsruhe
10.7.: Peter Ruzicka, „Mahler/Bild – Erinnerungen für Orchester“, Liederhalle Stuttgart
15.7.: Gerhard E. Winkler, „Pièces fluides für Klavier“, ZKM Karlsruhe