Seine vierte Oper nach einem Drama von Schiller schrieb Verdi für Paris. Nach erheblichen Kürzungen und Ergänzungen der ursprünglichen Partitur kam der von Joseph Méry und Camille du Locle ins Französische gebrachte und zum Libretto bearbeitete „Don Carlos“ 1867 heraus – mit Überlänge. Für die Nutzung im italienisch-sprachigen Opernbetrieb sorgte der Theaterpragmatiker Verdi dann nach und nach für mehrere kürzere Fassungen.
Die Mailänder Version von 1884 setzte sich international durch. Mit ihr rückte „Don Carlo“ in den exklusiven Zirkel der zehn meistgespielten großformatigen Opern des 19. Jahrhunderts auf. 150 Jahre und 150 Tage nach der Uraufführung in der Salle de la rue Le Peletier wurde nun an der Place de la Bastille im Wesentlichen die originale Version wieder aktiviert, lediglich um das Muschel-Ballett „La Pérégrina“ im 3. Akt gekürzt.
Ein langes Ringen
Mit nichts anderem beschäftigte sich der Komponist und Politiker Giuseppe Verdi so intensiv und nachhaltig wie mit der Transposition des großen und tiefgreifenden Dramas von Friedrich Schiller ins Opernformat. Die vielschichtige und komplex verwobene Handlung präsentiert nicht nur einen extremen Vater-Sohn-Konflikt in einem obsolet gewordenen Feudalsystem, extremen Gruppenzwang für die UntertanInnen, bizarre Hofintrigen sowie die Rivalität einer besonders schönen und intelligenten Hofdame zu ihrer Königin. „Don Carlos“ verhandelt auch – relativ solide vom Historiker Schiller recherchiert – die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen in Nordwesteuropa im Gefolge von Reformation und Religionskriegen, die öffentlichen „Ketzer“-Verbrennungen und generell den monströsen Einfluss der katholischen Kirche auf die (spanische) Politik. Gegen allen Freiheitswillen draußen im Land und deren Widerhall in den politischen Anschauungen und Bestrebungen des Marquis de Posa bei Hofe setzt sich die alte autoritäre und zentralistische Ordnung brutal durch. Anders als im Drama wird in der Oper der fatale Schluss allerdings begütigt durch ein Musiktheatermirakel: Aus seinem Grab heraus rettet der Großvater Karl V. den Enkel vor der ihm drohenden Hinrichtung.
Krzysztof Warlikowski brachte vor wenigen Wochen bei der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle eine Aufbereitung von Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ heraus, die das in Kammerdimensionen gehaltene Stück auf verblüffende Weise dem riesigen Raum anverwandelte. Die Probleme der aus der Unterschicht stammenden Mélisande auf Château Allemonde trieb er als sozialen Konflikt zum tödlichen Exzess. Er nutzte dabei das per Live-Video in Großaufnahmen gezeigte Gesicht von Barbara Hannigan für eine großzügige, moderne und solide Inszenierung des nunmehr keineswegs mehr symbolistisch verschwurbelten Stücks.
Ein vergleichbar origineller und zielführender Zugriff ist Warlikowski auf „Don Carlos“ nicht gelungen. Womöglich war er auch gar nicht intendiert. Der polnische Regisseur hat diesmal, einem im 20. Jahrhundert vorherrschend gewordenen Theaterbrauch folgend, die vor welthistorischer Folie spielende Tragödie des Don Karlos ins „Zeitlose“ gewendet und auf geographische Verortung verzichtet. Der erste, nach dem Willen der Autoren des Werks im verschneiten Wald bei Schloss Fontainebleau spielende Akt erinnert noch entfernt an das Gehölz, in dem die von Kriegsfolgen gepeinigten Untertanen hungern, frieren, bangen und hoffen: Der hermetische Raum ist dunkel getäfelt, ein hölzernes Bett und ein Holztisch stehen vorn (letzterer mit einer Büste als Sinnbild königlich-väterlicher Allgegenwart und Autorität); weiter hinten einsam und dauerhaft funktionslos ein Plastik-Schimmel. All das, wie insbesondere später die Möblierung mit schweren Ledersesselgarnituren, fördert weniger Assoziationen in Richtung Frankreich und das Jahr 1559, in dem Schiller die Handlung ansiedelte, an Ort und Zeitpunkt der Niederschrift (Thüringen 1787) oder an die 1860er Jahre, als Verdi komponierte. Eher erinnert man sich unwillkürlich an die Ausstattung einer polnischen Distriktverwaltung und deren Publikum um 1995. Von wegen Zeit- und Ortlosigkeit! Nur: Was hat die Trostlosigkeit des postrealsozialistischen Szczecin mit dem spanischen Infanten, seiner zwangsweise zur Mutter mutierenden Verlobten, seinem unbeherrschten herrschsüchtigen Vater, mit der Inquisition, der Freiheitssuada eines Posa und dem hochentwickelten Liebesbedürfnis der Prinzessin Eboli zu tun?
Aller Wirklichkeit enthoben
Warlikowskis Neutralisierungsverfahren rückt die Aufführung demonstrativ möglichst weit weg von einer politisch aufgewühlten Gegenwart. In der köcheln – und ausgerechnet in Spanien – die Fragen der sozialen Ungerechtigkeit, der regionalen Unabhängigkeit, der Freiheit von einem verhassten (und weithin als obsolet empfundenen) „System“, von Gruppenzwang etc. hoch. Für den Pariser Premierenabend war im Nachbarland die Grundsatzrede des katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont zur Zukunft seiner gespaltenen, von der Zentralregierung bedrängten und vom politischen Europa im Stich gelassenen Region angekündigt. Das bedeutet eigentlich eine Steilvorlage für alle Theatermacher, die ihren politischen Verstand nicht an der Garderobe abgeben haben. Auch Warlikowski (oder der ihn steuernde Direktor der Opéra National de Paris) scheint vor jener besseren Hälfte von Operngängern einzuknicken, für die die Bühne lediglich ein „Kraftwerk der Gefühle“ sein soll und die Bilder zum „Psychologischen“ möglichst unverbindlich, glatt und „schön“ wünschen.
„Zeitlosigkeit“ und Vermeidung von Verortung kann es übrigens weder bezüglich von Handlungsverläufen geben noch gar hinsichtlich Ausstattungen. Niemand kann Bühnenkonflikte oder -bilder anders wahrnehmen als in historischen und aktuellen Kontexten. Die Bilder, die Małgorzata Szczęśniak für Warlikowskis Interessenvertretung der geschundenen Seele des verbürgerlichten Infanten Carlos entwickelte, sind unaufregend, konventionell glatt und kommen ohne demonstrative Einsprengsel von irritierend Hässlichem aus. Die „Ketzer“-Verbrennung wird begnadigt zum Vorführen eines einzelnen halbverhungerten Gefangenen, der aus unersichtlichen Gründen umfällt. Das rebellierende Volk benimmt sich wie eine zum Gottesdienst zusammenströmende Gemeinde. Diskret legt sich der Firnis einer verschrammten Stummfilm-Kopie immer wieder vors Bühnenbild und schafft so zusätzlich Distanz. Auch Großaufnahmen der Gesichter von Vater und Sohn. Sie charakterisieren Carlos als sensiblen (Lebens-)Künstler, Philippe II als menschenfressenden Moloch. Jaja, der gescheiterte Ehemann und schlechte Liebhaber ist ein allzu harter Machtpolitiker – davon wird ausgiebig gesungen. Tiefergreifend erkundet und auf Aktualität hin befragt wird es nicht.
Ein Erntedankfest der Stimmen
Es wird – mit kleinen Abstrichen – vom Sextett der großen Stimmen wie in den Nebenrollen vorzüglich gesungen. Der Großinquisitor Dmitry Belosselskiy wirkt mit seinem ruhig-sonoren tiefen Bass wie jenseits von Gut und Böse und ist doch letzteres aus ganzer christkatholischer Seele. Als politische Gegenspieler des Königs, der zu dessen engstem Berater avanciert und letztlich doch in den Kategorien von Dynastie und Staatsraison denkt, ist Ludovic Tézier eine vorzügliche Besetzung. Man kann sich diesen auch als Akteur gewandten Bariton mühelos im Kabinett von Emanuel Macron vorstellen. Dem menschlich miserablen, mitleidheischenden und dann irgendwie auch wieder allzumenschlich sympathischen Monarchen verleiht Ildar Abdrazakov großes Format. Beim Repräsentieren wie beim Lamentieren und Überreagieren. Sonya Yoncheva zeigt, wie eine Frau an seiner Seite erstarren muss – und singt doch den hochgefühlsgeladenen Abschied vom einstigen Geliebten für einen Tag mit anrührender Wärme. Jonas Kaufmann, der vielgeliebte Tenor, gibt den unglücklichen Prinzen nicht ganz knödelfrei als jenen Melancholiker, der uns immer wieder zuzuflüstern scheint: „Ich kann es nun nicht mehr“. Absolute Spitzenklasse ist Elīna Garanča als kesse Fechtmeisterin (die königliche Damenriege wird beim Fechtunterricht gezeigt) und als Alleinunterhalterin mit der anzüglichen „chanson sarrasine“ vom Maurenkönig Achmet. Sie erfreut Auge und Ohr als hasserfüllte messerscharfe verschmähte Geliebte und in der Funktion als Mätresse und Möbel Philipps. Vor allem auch als bedingt reuige Sünderin. Sie erzielt schon auf dem Weg zum schrecklichen Ende der Freiheits- und Reform-Hoffnungen den meisten Beifall.
Großen Applaus erntet schließlich, zu Recht, auch Philippe Jordan. Nach Ingo Metzmacher (Hamburg 2000) und Antonio Pappano (Salzburg 2013) hat er sich für eine Version des Werks entschieden, die den Fontainebleau-Akt enthält und damit die tieferen Motivierungen der Tragödie. Jordan dirigiert eine erfreulich flüssige Szenenfolge. Er begleitet umsichtig, präzise und motivierend, lässt das Riesenorchester nie brüllen oder auch nur das Heldische allzu sehr hinaustrompeten. Dieser Dirigent hat „gout“.
Der Mehrheit im Pariser Premierenpublikum dürfte recht und billig gewesen sein, dass Krzysztof Warlikowski mit Schillers Impetus und Problematiken so herzlich wenig anfangen konnte oder wollte. Man war mehr als zufrieden mit den Sängern und der facettenreichen Musik, die sich unbeschwert von tiefen oder schweren Gedanken inhalieren ließ. Es lässt sich auch mit Entpolitisierung Politik machen.