Neue Opern: Uraufführungen – und dann ab in den ewigen Theaterfundus. So war es in der Vergangenheit. Leider. Jetzt scheint sich jedoch ein Wandel anzukündigen: Gleich drei Musikbühnen beschäftigten sich mit dem italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino. Das Nationaltheater Mannheim brachte die Uraufführung von „Superflumina“ (siehe folgende Kritik). Die Oper Frankfurt spielte Sciarrinos Erfolgsstück „Luci mie traditrici“ in einer die zentralen Figuren scharf zeichnenden Inszenierung von Christian Pade, glänzend musiziert vom Frankfurter Opernorchester unter Erik Nielsen. Das Mainzer Staatstheater, von finanziellen Einsparungen bedrängt, bot eine hochrespektable Aufführung von Sciarrinos „Macbeth“ in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca, musikalisch kompetent geleitet von Clemens Heil. Dreimal spannendes Musiktheater auf hohem Niveau, das der Oper insgesamt den Weg nach vorn weist.
Am Nationaltheater Mannheim hat am 20. Mai eine neue Oper von Salvatore Sciarrino Premiere gefeiert. Superflumina erzählt von der Einsamkeit einer obdachlosen Frau. „Wir müssen kulturelle Allesfresser sein und alle Kunstformen plündern, um unsere eigene Kunst voranzubringen“, sagte einmal Pierre Boulez. Sind auch die Verbindungslinien schmal zwischen dem französischen Mastermind und dem sizilianischen Feingeist, um den es an dieser Stelle gehen soll, schöpft Salvatore Sciarrino dennoch aus gleichem Antrieb.
Mit kannibalischem Hunger bedient sich Sciarrino, der sich angeblich nie den Exerzitien des Kompositionsunterrichts unterzogen hat, in der Speisekammer der Musikgeschichte und verdaut sie zu immer neuen, einzigartigen Formen. Sein Schaffen umfasst inzwischen beinahe zweihundert Werke jeglicher Gattung. Doch kein Genre scheint seinem Wesen so nah zu sein wie das Musikdrama, das er mit Meisterwerken wie Luci mie traditrici, Lohengrin oder Macbeth bereichert hat. Das zeigt sich inzwischen gar auf den Spielplänen, wo dieser Tage Sciarrino-Festspiele sind, mit Premieren in Frankfurt, Mannheim und Mainz.
Seine neue Oper Superflumina ist eine Geschichte von der Einsamkeit, ihr Schauplatz ist der Bahnhof, ein Ort, der sich „über dem Einzelnen wölbt und seine Einsamkeit hervorhebt“. Sciarrinos Werk hebt mit einer Beobachtung aus der Mitte unserer Zivilisation an, sein Stück widmet sich den „verlassenen Geschöpfen“, die „lange über verlassene Horizonte [dahintreiben], über Marmorplatten, von Schritten poliert, oder auf Inseln mit gummiartigem Boden: jenen Stränden aus Stufen, Tischen, Bänken, wo sie sich, erschöpft vom langen Wachen, fallen lassen. Die Alten ringsum erstarren, eingehüllt in das Summen der Neonlichter, wie Schmetterlingspuppen entleert jeder Zukunft.“ Man erkennt es an diesem Zitat: Sciarrino ist nicht nur Maler und Komponist, er ist auch ein Poet. Wie bei seinen vorangegangenen Werken hat er sich auch in diesem Fall das Libretto selbst zusammengeschrieben.
Es gehört zu den prägenden Kennzeichen der Musik von Salvatore Sciarrino, dass in ihr das Hohe und das Niedrige aufeinanderprallen, Zivilisationsmüll und das hehre Erbe der Vergangenheit aneinander andocken und dadurch ein Gefälle erzeugen, das dem Hörer gelegentlich schier den Boden unter den Füßen wegzieht. Der gelegentlich barock anmutende, bis zum Manierismus verfeinerte Ausdruck seiner musikalischen Figuren birgt dann wie ein Werk der arte povera den Grundbass unserer Zeit oder den Signalton der Mobilkommunikation. Die „Archäologie des Telefons“ hat er ebenso beschrieben wie den „ephebischen Jüngling vor dem Radio“. Nun also eine Episode aus dem „Tagebuch eines Großstadtnomaden“. Authentische Bahnhofsdurchsagen, wie er beteuert, von verspäteten „Infracities“ hat er in seine Komposition aufgenommen. (Und wer Sciarrinos Notizbücher einmal gesehen hat, glaubt ihm aufs Wort.) Sie dringen ein in die Welt der Protagonistin, die schlicht die Frau heißt, eine Obdachlose ist und vom Meer der Einsamkeit überflutet wird. Der 137. Psalm und die Wasser Babylon mussten es allerdings schon sein um die Flut über ihr auszugießen. Dann wieder wird es handfest: „Wir haben uns in den Aborten genommen wie Bestien, schlimmer noch.“ Schließlich Novalis-Splitter. Man kann diesen Wechsel zwischen hohem Ton und niederem Triebgewühl kühn finden. Vielleicht ist es aber auch ein bisschen abgeschmackt.
Sciarrino erzählt nicht von der Ödnis und der Einsamkeit, er führt sie vor – mit den nächtlichen Zaubermitteln seiner „Ökologie des Hörens“ freilich, die vom Mannheimer Nationaltheaterorchester unter Leitung des Sciarrino-Spezialisten Tito Ceccherini ganz wundervoll zum Leben erwacht. Sciarrino gibt dem Hörer Zeit, sich in den kreisenden Gedanken zu verlieren, von denen die Frau gebeutelt ist. Der großen sängerischen Leistung von Anna Radziejewska, die den Abend gewissermaßen allein trägt, kann man nicht genug applaudieren, wie es das Premierenpublikum denn auch herzlich tat. In kleinen immer ähnlichen Modulen bewegt sich ihre Stimme – die Bassflöte faucht und gurrt dazu, gestopfte Trompeten senden ihr gedämpftes Quäken aus dem Graben; delikate Klangmischungen zwischen Streichern und Schlaginstrumenten dringen heran, das Donnerblech grollt leise unentwegt. Glasige Flageoletts werden vorgeführt, bis sie Haarrisse zeigen, der metallische Klang einer großen Eisenfeder spaltet grell die mondsüchtige Stimmung. Und wenn die Welt aus den Fugen gerät, klingt es aus dem Graben, als entgleise ein Güterzug.
Einmal jedoch, in der zentralen Szene, bricht ein stampfender geradtaktiger Rhythmus in diese Welt hinein, er symbolisiert das Flackern der Werbung wohl ebenso wie den Sumpf des Nachtlebens. Hier scheint das Trauma verborgen zu liegen, dem die Einsamkeit der Protagonistin entspringt. Aber davon verrät die Inszenierung wenig. Fast möchte man der Regisseurin Andrea Schwalbach und ihrem Team empfehlen einmal den letzten Zug am Mannheimer Hauptbahnhof fahren zu lassen. Dann tritt man ein in das Reich jener Gestalten, von denen Superflumina handelt, man begegnet dem Personal, das die Kunstwelt Sciarrinos bevölkert, wenn der Schlossherr sich in seiner nächtlichen Melancholie nach Gesellschaft sehnt.
Nur auf Durchsagen wartet man dann vergeblich. Was zu verschmerzen ist.