Anlässlich des 100. Geburtstags von John Cage und der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen hatte sich das Musikfest Berlin in diesem Jahr nur einem einzigen Thema gewidmet: dem Musikleben der USA. Im Unterschied zur Welt des Pop und Jazz ist das Konzertleben dort noch stark europäisch geprägt. Man darf sogar fragen, wie tief der bei Arnold Schönberg ausgebildete John Cage, der in Darmstadt seinen Durchbruch erlebte, eigentlich in der amerikanischen Musikkultur verankert ist. Sein Zentenarium wurde jedenfalls in Deutschland nachhaltiger gefeiert als in den Vereinigten Staaten.
Eher wie eine Pflichtübung wirkte das Cage-Programm, mit welchem die Junge Deutsche Philharmonie und das Ensemble Modern unter Peter Rundel die diesjährigen Darmstädter Ferienkurse eröffneten und dann auch in Berlin gastierten. Mit der dürren Einstimmigkeit von „Cheap Imitation“ und dem Punktualismus von „Atlas Eclipticalis“ waren die hervorragenden Musiker unterfordert. Dagegen ergab die gleichzeitige Wiedergabe von „Apartment House 1776“ und „Renga“, beide zur 200-Jahr-Feier der USA geschaffen, durch Einblendungen von Gesangsaufnahmen mit Protestanten, Juden, Indianern und Afroamerikanern ein farbiges Klangbild dieses Vielvölkerstaats.
Im Mittelpunkt Charles Ives
Solche Vielfalt gab es schon bei Charles Ives, diesem unbeirrbar pluralistischen Eigenbrötler, dem sich das Musikfest ausgiebiger widmete. Ein weiter Weg liegt zwischen seiner frühen, noch an Brahms orientierten zweiten Symphonie bis zum „Orches-tral Set No. 2“ von 1919, in das der Komponist ohne alle akademischen Rücksichten die Klangwelt seiner Umgebung aufsog. Der letzte Satz, angeregt durch spontane Trauergesänge anlässlich der Versenkung der „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot, nahm schon die Gebrochenheit von Tom-Waits-Songs vorweg. Kent Nagano und das Mahler Chamber Orchestra zeigten hier viel Sinn für räumliche Staffelungen wie auch für die Lokalfarben dieser Musik. Ein kunterbuntes tagebuchartiges Kompendium aus verschiedenen Schaffensperioden des Komponisten sind seine 114 Songs, von denen eine Auswahl in Orchesterbearbeitungen von Georg Friedrich Haas, Toshio Hosokawa und John Adams zu erleben war. Während manche Orchestrationen von Haas so sperrig waren, dass sogar Thomas Hampson Schwierigkeiten hatte, sich sängerisch hörbar zu machen, hatte sich Hosokawa die von ihm ausgewählten Lieder poetisch-subtil anverwandelt, etwa durch Ergänzung eines Akkordeons in „Tom Sails Away“ oder in der Kombination von Streicherflageolett und Glocken in „Songs My Mother Taught Me“.
Mehr als Gustav Mahler hat Charles Ives Klänge seiner Umwelt in seine Musik integriert. In seine 1918 vollendete Vierte Symphonie nahm er Erweckungs-Hymnen, Lokomotivgeräusche und Großstadtlärm auf. Bei diesem visionärsten Orchesterwerk von Ives, das unterschiedliche Tonarten und Tempi, Glissandi und Akkorde nebeneinanderstellt, erzielten Ingo Metzmacher, die Berliner Philharmoniker (einschließlich Fernorchester), der Ernst Senff Chor sowie der Pianist Pierre-Laurent Aimard trotz der Dichte der Klangereignisse eine geschlossene, eindrucksvolle Wirkung.
Moses und Mao
Drei selten gespielte Opern waren in der Philharmonie konzertant zu erleben, „Nixon in China“ von John Adams sogar als Berliner Erstaufführung. Es ist ein satirischer Blick auf die Begegnung von Richard Nixon und Mao Tse-Tung, zwei extrem unterschiedlichen Staatsmännern, die sich 1972 eigentlich nichts zu sagen hatten. Nichtssagend begann auch die floskelhafte Musik mit minimalistisch kühlen Repetitionen, die in den folgenden Akten zunehmend durch ariose Partien angereichert wurden. Szenische Elemente wie Kostüme, Auf- und Abtritte, Fähnchen oder ein kleines Flugzeugmodell unterstrichen die Handlung. Unter den Sängern, die eine riesige Textmenge zu bewältigen hatten, ragte die koreanische Sopranistin Kathleen Kim, welche Maos Frau verkörperte, sängerisch und darstellerisch heraus. Der Bariton Robert Orth bleckte als Richard Nixon wirkungsvoll die Zähne. John Adams dirigierte straff rhythmisch das BBC Symphony Orchestra.
Stärker berührte die temperamentvolle Gesamtaufführung der Gershwin-Oper „Porgy and Bess“ mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle. Passend zur Rassenthematik waren die Vokalparts fast ausschließlich mit Schwarzen besetzt – mit ausgezeichneten Solisten wie Willard White (Porgy) und Measha Brueggergosman (Bess) sowie dem beeindruckend stimmgewaltigen Voice of the Nation Chorus aus Kapstadt. Dagegen war der arrogante weiße Kriminalbeamte wirklich ein Weißer. Rattle ist mit dieser Oper bestens vertraut, während die Philharmoniker trotz der pianistischen Mitwirkung von Wayne Marshall nicht sofort den richtigen Ton fanden. Eine gewisse Fremdheit war einige Tage zuvor auch ihrer Wiedergabe der Rumba-Rhythmen aus Gershwins „Cuban Overture“ oder der symphonischen Tänze aus Bernsteins „West Side Story“ unter Metzmacher anzumerken.
Amerika als melting pot
Bestens eingeweiht in die Musiksprache Arnold Schönbergs war dagegen das SWR-Orchester Baden Baden und Freiburg, das unter seinem scheidenden Chef Sylvain Cambreling das dodekaphone Bekenntniswerk „Moses und Aron“ präzise und farbenreich spielte. Die noch in Europa entstandene Oper war ins Musikfest-Programm geraten, weil der Komponist vor Hitler in die USA geflohen war, wo er zudem Gershwin kennenlernte und John Cage unterrichtete. Wer wollte, mochte auch den Weg des Volkes Israel ins gelobte Land auf Amerika beziehen und die Gestalt des Demagogen Aron auf die Titelfiguren der Adams-Oper. Solche Vergleiche waren möglich dank der Textverständlichkeit dieser Schönberg-Aufführung, wofür nicht zuletzt Franz Grundheber als Moses, der unerschütterliche Andreas Conrad als Aron sowie der exzellent einstudierte Chor der EuropaChor-Akademie sorgten.
Auch Sergei Rachmaninow gehörte zu den vielen europäischen Musikern, welche in den Vereinigten Staaten Zuflucht fanden. Er hatte sein drittes Klavierkonzert, welches Nikolai Lugansky mit kühler Virtuosität exekutierte, noch in Russland komponiert, aber 1909 in New York uraufgeführt. Dagegen hatte Hanns Eisler sein Streichquartett und das Kammermusikwerk „Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben“ wirklich im amerikanischen Exil geschrieben. In einem Konzert zum 50. Todestag des Komponisten ergänzten Christoph Keller und das Pellegrini Quartett fesselnde Wiedergaben dieser Eisler-Werke mit Kompositionen von Charles Ives, Ruth Crawford Seeger und Aaron Copland.
Auf eigene Entscheidung, ohne verfolgt zu sein, war der aus Paris stammende Edgard Varèse im Jahr 1915 nach New York gezogen. Hier schuf er 1918 in seinem Orchesterwerk „Amériques“ ein brodelndes Klangporträt nicht nur dieser Großstadt, sondern auch der USA, dieses „Landes der unbegrenzten Möglichkeiten“. Mit den 142 Musikern der Urfassung, darunter zehn Trompeter und siebzehn Schlagzeuger, entfalteten Maris Jansons und das Concertgebouworkest Amsterdam einen wahren Höllenlärm, der an visionärer Kraft allerdings hinter der Vierten von Ives zurückblieb. Zuvor war das Orchester, unterstützt vom Rundfunkchor Berlin, mit Schönbergs „Überlebendem aus Warschau“ in eine schlimmere Hölle getaucht, um sich dann den gebändigten Klängen von Strawinskys „Psalmensymphonie“ und dem wohligen Sound des „Adagio for Strings“ von Samuel Barber zu widmen.
Nach der Schilderung der Nazi-Verbrechen wirkte das milde „Laudate Dominum“ allerdings trotz der hervorragenden Interpreten ebenso hilflos wie die unspezifische Trauer in dem bekannten Adagio.
Konfrontationen
Auch an anderen Abenden waren Programmkombinationen zu erleben, welche Fragen aufwarfen. So wurde im Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin Rachmaninows drittes Klavierkonzert mit der Sinfonie Nr. 6 konfrontiert, welche Hans Werner Henze der kubanischen Revolution gewidmet hatte – dem spätbürgerlichen Ego-Trip stand der kollektive Prozess einer Gesellschaft im Umbruch gegenüber. Als Teil seiner Gesamtaufnahme aller Henze-Sinfonien präsentierte Marek Janowski mit dieser Sinfonie ein Werk der Dialektik, des Umschlags von einem Zustand in sein Gegenteil. Zwei Orchester hätten ursprünglich von zwei Dirigenten dirigiert werden sollen. Aber auch so wurden die Spannungen spürbar, die zuletzt in den Rhythmus des kubanischen Nationaltanzes Son einmündeten.
Ähnlich fremd wie Rachmaninow und Henze waren sich Schönbergs Orchesterstücke op. 16 und Gershwins „An American in Paris“, welche David Robertson und das St. Louis Symphony Orchestra nebeneinanderstellten. Auch die spätere Freundschaft zwischen beiden Komponisten konnte den enormen Abstand zwischen ihren Werken nicht überbrücken. Das Cello-Konzert von Elliott Carter und Bruckners 9. Symphonie standen sich auf dem Programm der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim ähnlich sperrig gegenüber. Hier aber gab es zwischen beiden Kompositionen immerhin noch eine Pause.
Wandelkonzerte
Fast alle 25 Konzerte des Musikfests fanden in der Philharmonie statt. Am vorletzten Tag gab es jedoch noch die Entdeckung neuer Spielorte. Dies verdankte sich dem dreiteiligen Projekt „Kreuzberg trifft Amerika“ des Rundfunkchors Berlin, das von den Besuchern wie von den Chorsängern Flexibilität verlangte. Unter dem Dirigat von Simon Carrington, dem langjährigen Leiter der legendären King’s Singers, der inzwischen in den USA unterrichtet, gaben die Sänger im Tempodrom einen Einblick in die amerikanische Chorszene. Noch ganz europäisch wirkten die „Four Motets“, die Aaron Copland 1921 während des Unterrichts bei Nadia Boulanger komponiert hat. Ein amerikanisches Statement war dagegen „To a skylark“ von Steven Stucky, der die direkte Umsetzung des Textes („higher still and higher“) mit absolut musikalischer Gestaltung verband. Ein traurig-meditatives „Alleluja“ schuf Randall Thompson 1940, als er die Nachricht vom Fall Frankreichs erhielt.
Vom Tempodrom führte der Weg über die Spree zum Kühlhaus Berlin, wo acht Gesangssolisten „The Little Match Girl Passion“ für Chor a cappella und Perkussionsinstrumente von David Lang interpretierten. Der kalifornische Schüler von Hans Werner Henze hatte Hans Christian Andersens Märchen vom „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ mit Texten aus Bachs „Matthäus-Passion“ interpoliert. Wie bei Brecht-Eislers Lehrstück „Die Maßnahme“, welches 1930 Bachs Passion in die Leidensgeschichte eines Revolutionärs verwandelt hatte, bedeutete dies eine Verfremdung, was die minimalistische Musik noch verstärkte. Unter der Leitung von Paul Hillier, dem sich schon 2007 die New Yorker Uraufführung verdankt hatte, hinterließ die glockenrein intonierte Wiedergabe der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Komposition starke Wirkung.
Wer wollte, konnte thematisch passend danach in der Deutschen Oper die Premiere der Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann besuchen. Chorfans gingen dagegen vom Kühlhaus am „Rosinenbomber“ und der Amerika-Gedenkbibliothek vorbei in die zum Konzertraum umgebaute Heilig-Kreuz-Kirche. Unter seinem Chef Simon Halsey sang hier der Rundfunkchor Psalmkompositionen von Charles Ives und die „Chichester Psalms“ von Leonard Bernstein.
Am meisten verblüffte jedoch der in Berlin lebende Amerikaner Cameron Carpenter mit den „Variations on ‚America‘“ für Orgel von Charles Ives und einer immens farbenreichen, geradezu surrealen Orgeltranskription des dritten Satzes („The Alcotts“) aus dessen „Concord Sonata“ (die einige Tage zuvor Pierre-Laurent Aimard vollständig vorgetragen hatte). Es bestätigte sich damit, dass Ives wohl der Komponist ist, der am stärksten – noch mehr als Gershwin, Bernstein und Cage – das Einschmelzen verschiedenster Einflüsse verkörpert, in welchem der Reichtum des US-amerikanischen Musiklebens wurzelt.