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Live in der Waldbühne: Pearl Jam. Foto: Sven Ferchow
Live in der Waldbühne: Pearl Jam. Foto: Sven Ferchow
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Schön, Euch zu sehen, nein, schön, Euch wirklich zu sehen – Pearl Jam live in der Berliner Waldbühne

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Als Pearl Jam im April 2017 in die Rock'n'Roll Hall of Fame aufgenommen wurden, übernahm kein Geringerer als David Letterman die Lobesrede. Dabei formulierte er eventuell ganz nebenbei einen der wichtigsten Sätze und Erkenntnisse überhaupt: „Oh my god, what a gift live music is”. Mehr muss man nicht sagen, wenn man insbesondere über Jahrzehnte die spärlichen, aber bewegenden Liveauftritte der US-Band in Deutschland, aber auch weltweit verfolgte.

Natürlich sind die geläufigen Klischees über Pearl Jam präsent. Letzte Rockband dieser Erde. Letzte überlebende Band der Grungewelle. Fans, die ihrer Band weltweit hinter reisen. Livemitschnitte, die nach dem Konzert als persönliche Erinnerung für schlappe 9,99 Euro gekauft werden können. Im Konzert steht man neben Fans aus Italien, Argentinien, Polen, Österreich, Portugal, Frankreich, USA und Australien. Ein eigener Fanclub, der seit 1990 die Interaktionen zwischen Fans und Band lenkt. Jeden Abend auf Tournee wird die Setlist spektakulär verändert. Dazu zahlreiche wohltätige Aktionen der Band, die z.B. Kindern oder Unterprivilegierten zu Gute kommen. Erst im August 2018 sammelte die Band 11 Millionen Dollar (in Buchstaben ELF), um Obdachlose in ihrer Heimatstadt Seattle zu unterstützen. Man könnte diese „Gutmensch“-Liste ewig weiterführen, denn das Engagement der Band reicht weit darüber hinaus. Und, das macht Eddie Vedder, Matt Cameron, Stone Gossard, Mike McCready und Jeff Ament so sympathisch; an die große Glocke wird das nicht gehängt. Schönen Gruß an Bono an dieser Stelle.

Als Pearl Jam am 5. Juli 2018 nach jahrelanger Deutschlandabstinenz um 19:56 die Bühne betreten, wird diese bodenständige Lebens- und Berufseinstellung der Band mehr als deutlich. Keine Vorband. Die Waldbühne in Berlin, in dunklen Zeiten noch Dietrich-Eckart-Freilichtbühne benannt und architektonisch am antiken griechischen Theater angelehnt, bleibt wie sie ist. Da werden humorlos Verstärker auf die Bühne geschoben und ein paar Lampen aufgehängt. Die klotzige Steinwand am Ende der Bühne bleibt unverhüllt. Warum auch nicht. Karibische 35 Grad Celsius treiben die Luftfeuchtigkeit und die Spannung der 22.000 Zuschauer in den roten Bereich. Es ist alles angerichtet für einen brachialen Urschrei zwischen Band und Fans, der sich in einem ersten Song entladen und all die Emotionen, Erwartungen und Euphorieen lawinenartig unter sich begraben könnte. Doch, es kommt anders. Mit „Wash“ und „Sometimes“ eröffnen Pearl Jam ein – ja, doch schon – legendäres Livekonzert in Deutschland fast schon rotzig, langsam, übersichtlich und ruhig. Ein Ansatz von Staunen macht sich breit in der Waldbühne, doch Eddie Vedder, der die Songs kurz vor dem Konzert mit schwarzen Edding auf weißes Papier schreibt, liegt goldrichtig. Während die Band eröffnet, verschwindet die Sonne stoisch aber ergeben hinter der Waldbühne, die Songs kühlen alle Gemüter zunächst gemächlich ab. Doch spätestens mit den folgenden Songs „Corduroy, Why Go und Save You” wird das Täuschungsmanöver der Band klar: Hier wird gearbeitet und gerockt.

Dazu gibt es links und rechts der Bühne Videoleinwände, was bei einem Pearl Jam Konzert nicht zwingend üblich ist. Aber selbst mit und bei diesem Medium beweisen sie Stil und Denkkultur. Lange bleiben die Bilder schwarz-weiß. Doch es sind keine beliebigen Bilder. Festinstallierte Kameras über dem Schlagzeug oder neben den Effektgeräten der Gitarristen am Boden sorgen für einzigartige Einblicke, dazu führt jemand Regie bei den Bildern, der es vermeidet, die großen Rockgesten, die es sowieso nicht gibt, einzufangen. Die Kameras übertragen tatsächlich ein Gefühl der Wärme, der Verbundenheit zwischen Publikum und Band. Was freilich erst durch eine sparsame, aber wirkungsvolle Lichtshow (Licht an – Licht aus) möglich wird. Erst als man den Bildern gegen Ende des Konzerts uneingeschränkt alle Farbe spendiert, merkt man, was für ein gnadenloses Rockspektakel in der Waldbühne stattfindet. Die Songauswahl ist schlicht grandios, zweifellos für Fans der ersten Alben bestimmt und an frühe Zeiten erinnernd. Die Alben „Pearl Jam“ und „Backspacer“ werden komplett ausgelassen (muss man sich leisten können), dafür gibt es mit „Deep“ (seit 1992 nicht mehr in Deutschland live gespielt) und „Porch“ vom „Ten“-Album sowie mit „Breath“ vom „Singles“-Soundtrack drei Liveklassiker, die man nicht immer und schon gar nicht in einem Konzert zu hören bekommt.

„Red Mosquito“ wird vom Haus- und Hof-Regisseur der Band, Danny Clinch, an der Blues Harp begleitet, bei „Rockin‘ in the Free World“, dem sagenhafte Neil-Young-Cover, assistiert J. Mascis von Dinosaur Jr. an der Gitarre und hebt den Song, der leider der letzte des Abends ist, mit seinem völlig irren Solo auf eine brachiale Ebene, deren Existenz weder Neil Young noch Pearl Jam vorher gekannt haben dürften. Zwischen all den Songs und zwei kürzeren Verschnaufpausen unterhält Vedder mit einer deutschen, aber kaum verständlichen Ansage, die er sich in Lautschrift notiert hat, gibt Kulturtipps (Besucht das Ramones-Museum in Berlin!), lobt Europa für seine Gastfreundschaft und Kultur oder erzählt Mini-Anekdoten aus dem Pearl Jam Kosmos, etwa von der auf einem Pearl Jam Ticket geschriebenen und auf die Bühne geworfenen Nachricht mit dem Inhalt: „I went to Pearl Jam with my neighbor and came back with my wife“. Und wenn man Vedders manchmal introvertiert wirkendes Genuschel richtig verstanden hat, darf man die Songwidmung vor „Breath“ noch als gelungene ironische Witzigkeit verbuchen. Denn die Widmung ging an einen erfolglosen US-Musiker namens Cliff Poncier, der es mit seiner Band nur in Belgien zu kleineren Erfolgen schaffte: „If you’re out here, this is for you, Cliff Poncier“. Nun, Cliff Poncier war eigentlich der im Film „Singles“ von Matt Dillon gespielte Musiker mit seiner Band „Citizen Dick“. Ein Film, in dem auch Vedder & Band Miniauftritte hatten und der der Grunge-Bewegung den letzten Hype besorgte. Wie auch immer. Eddie Vedders Ansagen passen einfach. Nie zu lang, nie zu kurz. Selten zu ernst, aber nie kitschig. Es soll ja gespielt werden in Berlin.

Leider dieses Mal etwas kurz, denn aus der ursprünglichen Setlist werden das brandneue „Can't Deny Me”, bedauernswerterweise der zweite Klassiker vom „Singles“-Soundtrack „State of Love and Trust“ sowie die obligatorische Schlussnummer „Yellow Ledbetter“ gestrichen. Böse aber unbestätigte Zungen behaupten, der Lärmschutz der Stadt Berlin sah ein Konzertende um 22:30 vor. Das und dafür gibt es einen kleinen erhobenen Zeigefinger, könnte man aber schon im Vorfeld eines Konzertes klären, liebe Band. Und um 19:30 beginnen. Allerdings war das bis dahin Gebotene in der Tat imposant und wird für lange Zeit unwiederbringlich sein. Als sich die Band um 22:31 verabschiedet, wehen noch die letzten Feedbacks von „Rockin‘ in the Free World“ durch die Waldbühne. Schnell hat man den Eindruck, es wäre erst vor fünf Minuten gewesen, als Eddie Vedder nach drei Songs das Berliner Publikum mit den wahrhaftigen Worten begrüßte: „Schön, Euch zu sehen, nein, schön, Euch wirklich zu sehen“.

  • Setlist: Wash, Sometimes, Corduroy, Why Go, Save You, Given to Fly, Red Mosquito, In My Tree, Even Flow, Wishlist, Habit, Angie (Rolling-Stones-Cover), Daughter, Deep, Mind Your Manners, Unthought Known, Lukin, Porch, Thin Air, Thumbing My Way, Breath, Do the Evolution, Black, Rearviewmirror, Comfortably Numb (Pink-Floyd-Cover), Alive, Rockin‘ in the Free World (Neil-Young-Cover, mit J.Mascis)

 

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