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Schönbergs Lehre in Moskau

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In Temeswar erinnerte ein Kolloquium mit Uraufführungen an den Komponisten Philipp Herschkowitz
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Wie das Wissen um die Entwicklungen der Moderne aus Westeuropa und das Gedankengut der Zweiten Wiener Schule in die Sowjetunion hinein kam, erscheint noch heute rätselhaft. Kürzlich wurde dieses Geheimnis gelüftet: Dem heute so gut wie unbekannt gebliebenen Schüler und Freund Alban Bergs und Anton Weberns, Philipp Herschkowitz, ist es zu verdanken, dass Generationen von berühmt gewordenen Musikern in der Sowjetunion durch ihn direkt aus dieser Quelle der Tradition schöpfen konnten.

Eine intensive, beeindruckende Begegnung mit dem Wirken des rumänisch-jüdischen Komponisten ereignete sich in Temeswar, als sich der Geburtstag von Filip Hercovici, auch Philipp Herschkowitz (1906–1989) geschrieben, zum 111. Mal jährte. Ein Kolloquium mit mehreren Uraufführungen auf Initiative des Berliner Vereins „musica suprimata“ in Zusammenarbeit mit der Fakultät für Musik und Theater der West-Universität Temeswar und der Banater Philharmonie erinnerte zum ersten Mal auf rumänischem Boden an den bedeutenden Musiker.

Bildhaft und einfühlsam beschrieb die Pianistin Elisabeth Leonskaja im Rahmen der Gespräche die zartgliedrige Erscheinung ihres Lehrers: Langsamen Schrittes, immer mit der Brille auf der Nase und einer Mütze auf dem Kopf öffnete er den Studierenden die Tür seiner kleinen Wohnung, weit weg vom Zentrum Moskaus, um ihnen „absolut privat, für unbedeutende drei Rubel, die Analyse der musikalischen Formen nach Schönbergs Lehre“ beizubringen. Dies sei besonders wichtig für sie gewesen und es habe sie für das ganze Leben geprägt.

Ihr Kollege Alexej Lubimov bestätigte, dass Philipp Herschkowitz als unmittelbarer Zeuge und Theoretiker der Zweiten Wiener Schule alle jungen Musiker in Moskau geradezu magnetisch anzog, die in der damaligen Sowjetunion an der dort verfemten westlichen Kultur samt musikalischer Ideen interessiert waren – darunter etwa Edison Denisov, Sofia Gubaidulina, Alfred Schnittke und Dmitrij Smirnov. Per Mundpropaganda, als Geheimtipp erfuhr man von dem kompromisslosen Meister, dem es verboten wurde, offiziell zu unterrichten. Die ständige Gefährdung seiner Exis­tenz währte fast ein halbes Jahrhundert, bis er 1987 endlich aus der Sow­jetunion nach Wien ausreisen durfte.

Aus dem rumänischen Jassy stammend, ging Herschkowitz schon 1927 nach Wien, wo er drei Jahre bei Alban Berg, dann Dirigieren bei Hermann Scherchen und später „eine ganze Reihe von Jahren“ bei Anton Webern studierte. Dieser bescheinigte ihm in einem Schreiben, dass „von seinen Fähigkeiten, insbesondere auf kompositorischem und theoretischem Gebiete Außerordentliches zu erwarten“ sei.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs gelang es Herschkowitz erst 1939 aus Wien zu flüchten, zunächst nach Bukarest, dann nach Czernowitz und von dort aus, nach Taschkent. 1946 ließ er sich in Moskau nieder, wo er bald als „Kosmopolit“ und „Formalist“ in Ungnade fiel. Seine Kompositionen und seine nicht minder bedeutenden theoretischen Schriften sind alle „aus dem Geist der Schule Arnold Schönbergs entstanden“, wie der Herschkowitz-Forscher Klaus Linder treffend bemerkte, und sind gewonnen aus den Werken der Blütezeit der Klassik, insbesondere Beethovens. „Gerade weil die Schriften von Herschkowitz in relativer Abgeschiedenheit von den westeuropäischen Entwicklungen nach 1940 entstanden, treten die Denkweisen der Schönbergschule hier noch einmal in zusammengefasster Einheit hervor. Damit sind sie ein unschätzbarer Beitrag für die vergleichende musiktheoretische Forschung“, meinte weiter Klaus Linder, der, zusammen mit der Witwe Lena Herschkowitz schon 1997 im Selbstverlag ein „Viertes Buch“ mit Schriften und Briefen von Philipp Herschkowitz herausgab – die einzige Publikation bis heute in deutscher Sprache zu diesem Thema, als Ergänzung zu den in Moskau auf russisch erschienenen drei Büchern gedacht.

Die Schriften, wie auch die meisten bis jetzt entdeckten Kompositionen von Herschkowitz, entstanden, so Linder, fast alle in der Sowjetunion und die Verbreitung dieser Musik wie auch dieses Musikdenkens sei bislang kaum vorangekommen. Umso erfreulicher, dass am Rande des Kolloquium bekannt wurde, dass sich ein potenzieller Doktorvater für eine Promotion über Philipp Herschkowitz an der West-Universität fand.

Die Konzerte mit Uraufführungen von Klavier- und Kammermusikwerken waren allesamt herausragend besetzt mit Elisabeth Leonskaja und Alexej Ljubimov, dem Cellisten Wolfgang Boettcher, dem Pianisten Sorin Petrescu und einem Streichquartett aus Mitgliedern der Banater Philharmonie. Der Liederzyklus nach Gedichten von Ion Barbu, dessen überraschende Tonsprache dem Geist der Worte entspringt, sowie der enigmatisch knappe, als Torso erhaltene Streichquartettsatz, dessen Thema auf einer Zwölftonreihe mit Bach-Zitat basiert, wurden zuvor von Laura Manolache und Gabriel Iranyi durch originelle Werkanalysen erhellt. Die Meisterschaft der Kompositionen, die allesamt, wie die wertvollen theoretischen Schriften, auf eine Erstveröffentlichung warten, trat hier deutlich zutage. Für deren Publikation setzten sich die Initiatoren von „musica suprimata“ unermüdlich ein.

Am Eröffnungsabend hatte die Banater Philharmonie unter der Leitung von Gheorghe Costin die Fuge für Kammerorchester und die Kleine Kammersuite farbig und mit feinen Konturen uraufgeführt, sowie vier Madrigale für Mezzosopran und Kammerensemble, wendig interpretiert von Ana Maria Stanoia.

Mit dem Es-Dur Klavierkonzert op. 73 von Ludwig van Beethoven erweckte Elisabeth Leonskaja ihr Erbe einer grandiosen Tradition zum Leben. Damit deutete sie gleichsam durch ihr Spiel den tieferen Sinn von Alfred Schnittkes Würdigung: „Herschkowitz musste seinen Schülern nur noch sagen, was Webern ihm einmal von Beethovens Werken erzählt hatte, und aus seinem Mund war das Erklärung genug für Geschichte, Vorgeschichte und künftige Geschichte der bedeutendsten musikalischen Formen. Es ist schwer, jemanden zu finden, der so viele Generationen von Musikern so stark beeinflusst hat“.

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