Wer aufmerksam die Veranstaltungsangebote in Leipzig durchforstete, konnte in den letzten drei Wochen Schumanns große Liedzyklen an verschiedenen Orten erleben. Nun ist diese Musikstadt, in der Robert Schumann einer der ganz gewichtigen Pfeiler kultureller Nachhaltigkeit bleibt, schon lange keine erklärte „Liedstadt“ mehr – ebenso wenig wie Dresden oder München, wo vor einigen Jahren noch jeden Monat mindestens ein Idealinterpret in den großen Sälen gastierte.
Wenn Leipzig mit den Mendelssohn-Festtagen im Gewandhaus oder einem Richard-Strauss-Wochenende auswärtiges Publikum lockt, steht das Lied allenfalls am Rand des Angebots. Schon lange hat es weder an den Kultstätten noch in den Gutsschlössern und Kirchen der Region angemessene, wahrnehmbare, schon gar nicht elementare Frequenz. Das erstaunt, auch weil dort eine Vielzahl namhafter Interpreten mit Faible für das Feine und Vergeistigte lebt und gerne mehr präsent wäre. Unterbrechungen der Lied-Lücke waren zuletzt Max Regers Hybridwerke zum 100. Todestag und beim Bachfest. Solche Tendenzen stimmen nicht nur in Leipzig bedenklich. Im September ereignete dennoch die explosionsartige Akkumulation von mindestens sechs Liedkonzerten, ein Anlass zur Bestandsaufnahme.
Es gab Zeiten, da wagten sich unfertige Gesangsabsolventen schon vor dem Diplom in ihren Heimatgemeinden an Schwergewichte wie „Winterreise“. Das will man sich nicht wünschen, auch wenn man heute das Schrumpfen des Live-Liedangebots schmerzlich spürt. Die meist genannten Gründe gleichen sich in Mitteleuropa: Kein Interesse der Veranstalter, allzu intensiver Zeitaufwand der Künstler für oft nur einen Auftritt, wenig bis kein Honorar. Schwerster Liedgesang wird so zum lockeren Ehrenamt oder Fleißaufgabe. Mit Kabarett oder Lesungen, die viel einfacher zu realisieren sind, amortisiert sich die Belebung schöner Orte leichter.
Insofern wurde der Leipziger Zufallszyklus und seine Publikumsfrequenz ein Paradigma heutiger Liedpflege und des weiten Feldes von Interpretation, Talentaufbau, Struktur, Traditionserhalt und Management. Es ist nicht eine Krise der Liedgestaltung, sondern der merkantilen und mäzenatischen Pflege, auch eine Krise durch Scheu vor dem Fragmentarischen und dem Uneindeutigen. Ist das Dialogisieren im Kammerformat möglicherweise zu viel an künstlerischer Intimität für die digitale Welt?
Die Leipziger Liederlinie begann am 02. September mit einem Brückenschlag zu früheren Usancen, ganz ohne Schumann. Die Philippuskirche im In- und Industrieviertel Plagwitz wurde zum Rahmen einer „Schuberts Winterreise“-Fassung für Bariton, Chor und Akkordeon mit dem Vocalconsort Leipzig. Das sei erwähnt, weil Arrangements für verfügbare Musiker lange Praxis waren, bevor man das Lied zur Reliquie mit normativen Konventionen stilisierte. Letztere sind heute wahrscheinlich das stärkere Handicap. Dabei kommen Paraphasen an – man muss nicht gleich dafür einen Stern wie Marthalers „Schöne Müllerin“ beschwören.
Für Schumann gab es immer die originale Stimme-Klavier-Besetzung. Der nach Absage im Juni für 9. September angesetzte Auftritt von Thomas Hampson mit der erweiterten Edition der Dichterliebe op. 48 und der von Christian Gerhaher am 27. September mit den Kerner-Liedern op. 35 gingen als bombenfeste Glanzpunkte durch. Das Starappeal reichte zum gut gefüllten, aber bei weitem nicht vollen Gewandhaussaal – das war in den glorifizierten Zeiten von Dietrich Fischer-Dieskau und Brigitte Fassbaender nur geringfügig anders. Zwei der heute profiliertesten Lied-Baritone also zeitnah: Der Amerikaner Thomas Hampson glänzt mit dem Perfektionsanspruch an Diktion, implodierende Dramatik, dem noch immer beeindruckend farbenreichen Material und seiner Kunst der feinsten Dynamik. Und der Deutsche Christian Gerhaher bestätigte die seiner Stimme ganz eigene Kultur, die selbstverständliche Diktion und eine bewundernswerte Schattierungsvielfalt in Tongebung und Ausdeutung. Hampson baute Stationen, Gerhaher band die Gruppen (darunter Lenau-Lieder mit Requiem op. 90 und Drei Gesänge op. 83) mit Enjambements zu gleitenden Fantasien. Auch durch das freie Spiel Wolfram Riegers neben Hampson und das pianistische Verschmelzen Gerold Hubers mit Gerhaher entstanden kontrastreiche Welten. Beide Ausnahmesänger agierten mit verschiedenerlei Respekt vor dem tonpoetischen Material. Der Applaus war diskret, dass es nicht zu vielen Zugaben reichte – die Bewunderung dafür umso größer.
Reines Glück
Im Rahmen der Festwoche 2016 im Schumann-Haus gab es gleich zwei Liederabende. Der prächtig aufstrebende Konzertbariton Tobias Berndt lockte am 11. September leider nicht die gebührende Zuschauerzahl. Das erstaunt, denn nicht nur im mitteldeutschen Konzertleben ist er „ein Begriff“. Berndts lyrisches Material mit dem stabil gesicherten Kern schwingt genau auf den Flügeln des Gesanges für den Eichendorff-Liederkreis op. 39. Und Mahlers Morbidität der „Lieder eines fahrenden Gesellen“ wird ihm, der sich all seiner vokalen Mittel gewiss sein kann, noch lotender aufgehen. Die hochgestimmte Gleichwertigkeit mit dem Begleiter Alexander Fleischer bescherte reines Glück.
Die Aufführung des Zyklus „Myrthen“ op. 19, die Brautgabe Schumanns an Clara Wieck, ist im Schumann-Haus feste Tradition zur Wiederkehr des Hochzeitstages beider am 12. September. Diesmal waren Studierende mit der unbestechlich affinen Pianistin Sung-Ah Park die Ausführenden im unverdient schmal besetzten Salon. Marie Henriette Reinhold paarte volle Töne mit Präzision und Empathie. Eine tragfähige Zwischenfach-Stimme steht kurz vor der Selbstfindung. Der Jungbariton Lars Conrad zeichnete sich aus mit aufblitzender Ironie an den passenden Signalpunkten mit allen erforderlichen Sangeskompetenzen. Das macht neugierig auf Lars Conrads weitere Entwicklung – und ob er diese ideale Balance von Stimme und Sinngebung weiterhin bewahrt und verdichtet.
Frauenduo-Konter
Mit einem Frauenduo konterte das Mendelssohn-Haus zu den Mendelssohn-Festtagen (18. September). Dort ist der Salon im Vergleich zu dem der Schumanns etwas feudaler und einen ebensolchen Eindruck machte das Publikum der überfüllten Sonntagsmatinée. Wie würde Nora Lentner, die emanzipierte und resolute „Rössl“-Wirtin in der Musikalischen Komödie, die heikle Devotion des Chamisso-Zyklus „Frauenliebe und –leben“ op. 42 umspielen? Sie warf sich mit der ideal harmonierenden Pianistin Klara Hornig freudvoll und rückhaltlos in die jauchzende Mannsbild-Vergötterung, die aus den Perspektiven von Feminismus und Genderparität als anrüchig gelten muss. Dem konterten die Künstlerinnen mit Jubel auf die (innere) Wahrheit des Textes. Nora Lentner zeigte sich frei von Hyperpointilismus, entdeckte die direkt-emotive Reproduktion wie neu. Dafür freudiger Dank.
Beeindruckend und informativ war diese zufällige Reihung durch Schumanns Liedkosmos. Die darum gestreute Auswahl von Werken der Leipziger Koryphäen Mendelssohn und Mahler sowie deren Entourage (Brahms, Loewe), dazu DvoĆák zeigten tendenziell wenig Abwechslungs- und Kontrastwillen. Ist solche Akkumulation von regionaler Tradition nicht zu viel des Guten…. Wäre nicht mehr Mut zu mehr Farbe und Kontrast im Programm belebender für die kulturelle Interaktion…? Auf alle Fälle war es das vorerst mit einem derart verschwenderischen Füllhorn an (Kunst-)Liedern für Leipzig. Und schön war es auch.