Durch einen Einblick in die quirlige Selbstdarstellung Wagners im Haus Wahnfried, mit Salon-Weihfestspielen noch vor Eröffnung des Festspielhauses, hatte Barrie Koskys Inszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ im Vorjahr mit viel Witz das Publikum im Sturm erobert, so dass die in den nachfolgenden Aufzügen erfolgende Aufarbeitung von Judenpogrom und Nürnberger Prozessen als schwarzer Humor in Kauf genommen wurden.
Merklich hat der Regisseur seine Inszenierung aufpoliert. Darüber hinaus wird im zweiten Jahr, beim wiederholten Sehen, Manches deutlicher. Verändert ist insbesondere das Bühnenbild zum zweiten Aufzug: nunmehr grünt kein Rasen im Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse, sondern das gesamte Interieur aus Wahnfried ist als Ramsch auf die Bühne geschichtet und bildet eine Art Hecke um Hans Sachs’ nächtlichen Arbeitsplatz. Wenigstens eine Zimmerpalme bleibt stellvertretend für jene Linde, unter der sich das Liebespaar auf seiner beabsichtigten Flucht verstecken will. Von Flieder keine Spur, obgleich hier aus dem Wahnfried-Interieur des ersten Aktes ruhig noch einmal der Kasten mit den Parfums des sich durch Gerüche inspirierenden Komponisten hätte ins Spiel kommen können – zumal die bis ins Detail ausgearbeitete Inszenierung auch sonst nie um Gags verlegen ist. Diese werden auch als Wortwitz nicht ausgespart, etwa wenn David von Magdalene, seiner „Lene“, singt und dabei den Samtbezug einer Stuhl-Lehne streichelt.
Deutlicher als im Vorjahr wird, wann Richard Wagner, der sich nicht nur in Sachs und im revolutionären Neutöner Stolzing spiegelt, sondern hier darüber hinaus auch in seinen Kindern und in zahlreichem weiterem dramatischen Personal, als Komponist sui generis in Erscheinung tritt und wann er Hans Sachs ist. Dieses Rollenspiel dauert bis in den Schlussapplaus hinein an, wenn Eva, die im ersten Aufzug in Wahnfried als Cosima aufgetreten war, sich nun auch erneut in Kostüm und Maske der Komponistengattin verneigt.
Die von Wagner ausgeführten Neufundländer Molly und Marke dürfen nun länger im Salon verbleiben. Originell die theatrale Umsetzung von Stolzings Vision der „Meister wie böse Geister“, als der mit einem Instrument bestückten Meister und Lehrbuben, die sich streichend und blasend durchs nächtliche Nürnberg schlängeln.
Die Prügelszene ist Teil jenes später von Sachs besungenen Wahns, der aus Beckmesser erst einen Juden gemacht habe, wie Kosky einmal ausgeführt hat. Im Bühnenbild von Rebecca Ringst lässt der Regisseur einen wie den Mond aufgehenden Popanz aufblasen, einen Furcht einflößenden, gigantischen Judenkopf als „Mischung aus einer deutschen Karikatur des 13. Jahrhunderts und einer russischen Parodiedarstellung“, welche vom Zeugenstand aus „mit historischer Luft gefüllt“ wird – „hot air“, wie Richard Wagners Antisemitismus (Kosky); die Stimme des unsichtbaren Nachtwächters (Tobias Kehrer) solle so erklingen, als ob dieser Kopf sie sänge.
In Beckmessers Vision in der Pantomime des dritten Aufzugs erscheinen ihm sechs Kinder als Rabbiner mit übergroßen Köpfen, die ihn in den Zeugenstand drängen und ihn unter sich zu begraben drohen.
Die Festwiese ist andernorts durchaus origineller und turbulenter, wenn auch nicht unbedingt witziger zu erleben als hier im Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse unter Bewachung eines GI, wo Beckmessers hinzuerfundene Schwester Helga Beckmesser (im Kostüm von 1945: Ruth-Alice Marino), vom Bruder unterdrückt und beschimpft, die begleitende Harfe spielt.
Der Tanz um das Lenbach-Bild von Cosima, geküsst von Wagner-Kindern mit Barett, bleibt hingegen eine unbefriedigende Notlösung für den Tanz der Mädel von Fürth. Immerhin werden zwölf Standarten der Zünfte geschwungen, da die Fahnen der vier Siegermächte des zweiten Weltkriegs unbeweglich verbleiben, bis sie gegen Ende zur Seite wegkippen, um einen großen Bühnenwagen sichtbar werden zu lassen. Darauf ein komplettes Orchester, in welchem sämtliche Choristen als mimende Instrumentalisten singen und das von Wagner aus dem Zeugenstand dirigiert wird. Der Regisseur erklärte dies im Vorjahr bei der Versammlung der „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ dahingehend, dass das singende Orchester „als letzter Zeuge Richard Wagners“ auf die Bühne komme, während Wagner, der „wie Sisyphos permanent für ‚Meistersinger’ auf immer in den Zeugenstand“ müsse, ganz „am Ende ins Leere hinein dirigiere“. Und das letzte „Heil Sachs“ deutet der Regisseur als Aussage des Volkes: „Heil mich selbst, ich bin nicht verantwortlich.“
Dirigent Philippe Jordan trägt die Lesart leicht und spielerisch, durchaus mit Tiefgang und mit eigenwilligen langen Einschnitten in der Schusterstube, welche offenbar für die Bewusstwerdung von Inspiration und Gedankenfindung stehen und so dem Zuhörer das Entstehen der Meisterweise nach den Gesetzen der Barform erläutern helfen sollen. Für Beckmessers Preislied wählt der Dirigent ein ungewöhnlich breites, aber lebendiges Tempo. „Mich holt am Pranger der Verlanger“ murmelt der Solist nur, als wollte er diese Zeile unter den Tisch fallen lassen.
Mehr tenorale Freude als der Walter von Stolzing durch Klaus Florian Vogt, dessen Mittellage breiter geworden ist, der aber nun die merklich mühsamen Spitzentöne verkürzt, bereitet Daniel Behle als David, mit einer mühelos leichten, sich zum dramatischen Tenor entwickelnden Stimmgebung und einer überaus differenzierten Darstellung der Litanei der unterschiedlichen Meistersinger-Weisen.
Günther Groissböck als mäzenatischer Goldschmied Pogner erhält zusätzliches Gewicht, indem er stets als Franz Liszt, den er im ersten Aufzug verkörpert hatte, im Bewusstsein präsent bleibt und seiner Partie sonor eine zusätzliche Dimension schafft.
Michael Volle als Hans Sachs bietet ein erstklassiges Erlebnis mit dem auch stimmfarbig nachvollziehbaren Wechsel zwischen Komponist und Schuhmacher, der souverän kürenden Beherrschung des rhythmusgebenden Schuhklopfens, wie mit seiner philosophisch hintergründigen Umsetzung. Wenn Volle in der Schusterstube einmal durch einen falschen Anschluss beinahe einen Schmiss verursachte, den die Souffleuse hörbar zu retten wusste, so schmälerte dies seine großartige Leistung nicht und wurde auch von Keinem im Zuschauerraum verübelt.
Ein weiterer Sympathieträger dieser Inszenierung ist in Koskys „rassistischer Parodie, was ein Jude ist“ der sympathisch als eigenwilliger Künstler gezeichnete Sixtus Beckmesser von Johannes Martin Kränzle. Der Münchner Hofkapellmeister Hermann Levi, der bei Wagner zu Besuch ist und der von diesem nicht nur in die „Meistersinger“, sondern auch in die Gepflogenheiten christlichen Verhaltens eingeführt wird, darf bereits im ersten Aufzug, nachdem er in die Rolle des Beckmesser – alias Hanslick – schlüpfen musste, singend jiddeln: „Zwar werds a harte Arbeyt seyn!“
Im zweiten Akt ergänzt der Merker auf Freiersfüßen ein hörbares „Huhu!“ zur vermeintlichen Eva am Fenster, tanzt dann verblüffend leichtfüßig ein Solo unter einer ihm aufgesetzten Schwellkopf-Maske des Filmplakats „Jud Süß“.
Der in diesem Jahr mit Emily Magee umbesetzten Cosima/Eva gelingt die Grätsche kaum überzeugender als ihrer glücklosen Vorgängerin im vergangenen Sommer. Zwar vermag sie das Statement „Hier gilt’s der Kunst!“ ironisch zu unterfärben, aber die großen dramatischen Ausbrüche im dritten Aufzug sollten doch strahlender erklingen. Köstlich hingegen Wiebke Lehmkuhl als Wagners Dienstmädchen und Magdalene. Originell und individuell rollendeckend die Soli der Meistersinger (Daniel Schmutzhard, Paul Kaufmann, Christopher Kaplan, Stefan Heibach, Raimund Nolte, Andreas Hörl, Timo Riihonen), der 16 Lehrbuben und des von Eberhard Friedrich einstudierten, fulminanten Festspielchors.
Am Ende des Premierenabends feierte Applaus mit Trampeln, in den sich nur vereinzelte Buhrufe für den Regisseur mischten, diese Festspielpremiere emphatisch und lang anhaltend. Dass das Publikum Koskys Sicht auf Wagners nicht erst im Dritten Reich als Politikum missbrauchte Partitur so bereitwillig folgt, ist allerdings auch das Verdienst der vorangegangenen Inszenierung von Katharina Wagner, die erstmals das Problem des Antisemitismus in dieser Oper thematisiert und durch ihre Umverteilung der Bewertung von Innovation in der Musik die Sympathien von Stolzing auf Beckmesser gelenkt, den „Diskurs Bayreuth“ initiiert hatte.
- Weitere Aufführungen: 5., 11., 17., 21. und 27. August 1918.