Mit dem Schwerpunkt Israel-Palästina hat das Klangspuren-Programmteam Peter-Paul Kainrath/Maria-Luise Mayr/Reinhard Schulz für das diesjährige Tiroler Festival einen Länderschwerpunkt gewählt, der gesellschaftspolitische und soziale Fragen an die Komponistinnen und Komponisten und ihre Musik geradezu herausforderte.
Das Programmbuch spielte eine noch wichtigere Rolle als sonst und bot den Hörern einen Leitfaden mit Hintergrundinformationen, die man sich umfassender nicht hätte wünschen können. Reinhard Schulz stellte den Komponisten genau die Fragen, deren Antworten man als Konzertbesucher gern wissen möchte, wie zum Beispiel: "Kann Musik auf gesellschaftliche Zustände reagieren? Wenn ja, wie?" "Was spielt die musikalische Technik, die Frage des Materials in diesem Umfeld für eine Rolle?" und nicht zuletzt "Spielen diese Fragen bei Ihrem kompositorischen Schaffen eine maßgebliche Rolle?"
Gleichzeitig die klangspurentypische Selbstverständlichkeit, mit der nicht sklavisch an einem Thema festgehalten wird und die für das Gesamtkonzept eine wichtige Rolle spielt. Als Besucher des Festivals von außerhalb wird man aus zeitlichen Gründen ohnehin damit leben müssen, dass man nur einzelne Stationen der zweiwöchigen Spurensuche verfolgen kann und freut sich, dass auch der unvollständige Besuch der vielen Konzerte immer wieder verschiedene Ausblicke und Neuentdeckungen bietet.
Mit dem Programm des Eröffnungskonzertes hatte man einen starken Auftakt gewählt, der einen Ausblick auf die Spannbreite der musikalischen Entdeckungsreisen der kommenden zwei Wochen bot. Das Stück „Láma Poim“ des palästinensisch-israelischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi bildet klanglich die Härte und Verzweiflung ab, die das zeitlose Gedicht von Selma Meerbaum-Eisinger, eines jüdischen Mädchens im Dritten Reich, formuliert: „Warum brüllen die Kanonen? Warum stirbt das Leben für glitzernde Kronen?“ Durch seine plastische, kompromisslose Tonsprache zählt Odeh-Tamimi nun schon seit mehreren Jahren zu den gefragtesten Komponisten seiner Generation und fasziniert mit der schnörkellosen Direktheit seiner musikalischen Aussagen, wie auch in dieser Zwiesprache zwischen arabischer Oud und klassisch-westlichem Orchester.
Zwiesprache
„Eingeklemmt“ für Orchester in vier Gruppen bot das spannende Experiment, das zwei so unterschiedliche Komponisten wie der Österreicher Herbert Grassl und der gebürtige Ägypter Hossam Mahmoud gemeinsam verfasst haben, so wurde ein eigenwilliger Dialog zwischen zwei Tonsprachen geführt. Dem gegenüber stand die jubelnde Psalmvertonung „Tehillim“ von Steve Reich, die mit ihrem komplexen rhythmischen Gewebe einen geradezu rauschhaften Zustand herbeiführt. Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck hatte sich unter der Leitung von Johannes Kalitzke präzise in die unterschiedlichen kompositorischen Welten eingearbeitet und bot ein frisches, lebendiges Klangbild. Pech dagegen, dass bei der diesjährigen Internationalen Ensemble Modern Akademie der geplante Composer in Residence Steve Reich wegen einer Erkrankung sehr kurzfristig absagen musste. Die Teilnehmer/-innen aus mehr als zwölf Nationen ließen sich dadurch jedoch offenkundig nicht beirren. Ihr technisches und interpretatorisches Niveau war so homogen, dass sie innerhalb von neun Tagen Ensemblewerke wie „Drumming“ oder „Different Trains“, die äußerste Präzision im Zusammenspiel erfordern, so gut einstudiert hatten, dass alle Werke des Lehrplanes in einem dreistündigen Abschlusskonzert aufgeführt werden konnten.
Eines der eigenwilligsten Konzerterlebnisse war die Aufführung von Rebecca Saunders’ Stück „Company“, das sie für die Hofkirche in Innsbruck als Raumkomposition geschrieben hat. Als Zuhörer konnte man sich gut vorstellen, was die Komponistin an der merkwürdigen architektonischen Aufteilung des Kirchenraumes fasziniert hat. Dadurch, dass die Hofkirche im Moment auch noch renoviert wird und teilweise Baustellencharakter hat, verbunden mit den 28 überlebensgroßen dunklen Renaissance-Bronzefiguren des berühmten Grabdenkmales Maximilian dem I., entstand ein geradezu surreales Setting für die Musik. Saunders ließ die Töne um die Zuhörer kreisen, nutzte die solistische Besetzung mit Countertenor, Trompete, Violoncello, Akkordeon und E-Gitarre für eine akustische Auslotung des Raumes mit zeitlos klagenden Countertenorkantilenen, die am Ende still verhallen.
Mit ihrem Stück „CHROMA“, das für jede Aufführung dem jeweiligen Raum angepasst wird, wurde der mehrteilige Kirchenraum anschließend
akustisch erwandert. Das Ensemble Contrechamps verteilte sich auf alle Emporen und Nischen, das Publikum wandelte zwischen den überlebensgroßen schwarzen Renaissancefiguren umher und lauschte den musikalischen Inseln, die in unterschiedlichen Instrumentalbesetzungen gebildet wurden. In dieser zehnten Version des Stückes ist die Spieluhrensammlung, die im Eingangsbereich auf dem Kirchenboden verteilt wurde, inzwischen auf über hundert Exemplare angewachsen und mutet klanglich wie elektronisch erzeugte Cluster an.
Ganz andere Wege geht Francesco Filidei in seinem Manifest „I funerali dell’anarchico Serantini“, das das Ensemble Ascolta in St. Martin in Schwaz aufführte. Filidei gedenkt in dem Werk dem Tod von Franco Serantin, der 1972 bei Studentenprotesten schwer verletzt nach Straßenkämpfen in einer Gefängniszelle ums Leben kam. Wortlos sitzen sechs schwarz gekleidete Spieler nebeneinander am Tisch und erzeugen leise Geräusche nur mit Gesten, schauen sich gegenseitig nach einer klaren Choreografie an und zelebrieren ein stilles, sprachloses Entsetzen über den Tod. Leiser und konzentrierter könnte die musikalische Umsetzung eines solchen? Protestes gegen sinnlose Gewalt nicht geschehen.
sonntags in der kleinen stadt
Erstmalig präsentierten die Klangspuren unter der Überschrift „sonntags in der kleinen stadt“ ein Bezirksmusikfest, das eine Anbindung an die regionale Neue Musikszene schaffte. Swarowski Musik Wattens oder „The Next Step“, die schon immer zu den regelmäßigen Interpreten der Klangspuren gehören, waren hier ebenso vertreten wie das eher auf spätromantisch orientierte Werke spezialisierte Orchester der Akademie St. Blasius, und zeigten, dass Tirol speziell auch bei den Komponisten nicht wenige originelle Entdeckungen zu bieten hat. Der Komponist Bernhard Gander, der am Tiroler Landeskonservatoirum studierte und auch in Donaueschingen aufgeführt werden wird, zeigt keine Scheu vor frech-originellen Einbindungen von Alltagserscheinungen in seine Werke, lässt sich auch von Spiderman inspirieren und arbeitet gern lustvoll – und sehr differenziert – mit konkreten Geräuschen wie Verkehrs- oder Maschinenlärm. „Durch Mark und Bein“ beschreibt sehr plastisch, was Hermann Delago in seiner gleichnamigen Schlagwerkkomposition zelebrieren lässt. Die Interpreten sitzen am Tisch und traktieren mit diabolischer Freude Teller und Gläser solange rhythmisch mit Besteck, bis die Porzellansplitter anfangen umherzufliegen.Ebenfalls keine Scheu vor außermusikalischen Klängen hat die junge Komponistin Manuela Kerer, die auch das Jugendprogramm der Klangspuren mitbetreut. In „poly-ticks“ für Schlagwerkensemble bezieht sie sich auf eine Parlamentssitzung und baut auf elegant saloppe Weise Stühlerücken und Papiergeraschel mit ein.
Haimo Wissers Werke mit ihren genialen, transparent-akribischen motivischen Verschränkungen auf kleinstem Raum, wurden aus Anlass des 10. Todestages des Komponisten ebenfalls in mehrere Konzerte eingebaut. Dass Wisser dem außerhalb Tirols ungleich bekannteren Werner Pirchner in Humor und Gedankenwelt nahestand, zeigen allein schon Werktitel wie „Sonntags in der kleinen Stadt, wenn das Unvermeidliche eintritt – Promenade für Posaunenquartett“ oder „Gasförmiges Wirbeltier von astronomischer Größe für Streichorchester und Cembalo“.
Wie stark die Tiroler Klangspuren auch in der Bevölkerung verankert sind, zeigt sich nicht nur immer wieder neu an den hervorragenden Besucherzahlen des Festivals. Als die Bewohner eines Bauernhofes im Vorfeld erfuhren, dass über hundert Musikfreunde am Sonntag auf dem Jakobsweg an ihrem Haus vorbeiwandern würden, bereiteten sie eine Jause mit belegten Broten und heißen und kalten Getränken für die ganze Pilgerschar vor. Die diesjährige Pilgerwanderungsetappe von Steinach über Patsch und Igls nach Ampass dürfte manchen Italienreisenden nachdenklich gemacht haben – wer kennt schon die vielen schönen Ortschaften, die auf der anderen Talseite entlang der Brennerautobahn liegen und die ohne diese Nord-Süd-Achse idyllische Ferienorte in traumhafter Landschaft wären?
Die siebenstündige Wanderung wurde wie in den vergangenen Jahren durch sechs Konzerte in den Kirchen auf dem Weg ergänzt, die vor allem im Wechsel von Solisten des Ensembles Windkraft und den Neuen Vokalsolisten Stuttgart gestaltet wurden. So begleiteten die traurigen Kantilenen von Peteris Vasks Bläserquintett „music for a deceased friend“ oder die melancholischen Hörspielklänge von Haimo Wissers „Das Herz“ die Gedanken der Musikpilger auf ihren Wegen. Mit zwölf Madrigalvertonungen von Sciarrino in leuchtend-klarer perfekter Interpretation der Neuen Vokalsolisten schließlich fanden Tag und Festival ein ausverkauftes Abschlusskonzert mit Standing Ovations.