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Schweigen, Kasteiungen, Ekstasen, Wahnsinn

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Die Internationalen Musiktage in Weingarten beschäftigen sich mit dem französischen Komponisten Brice Pauset
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Seit 1986 gibt es im oberschwäbischen Weingarten Internationale Tage für Neue Musik. Die Idee dazu hatte eine einzige Person: die Pianistin Rita Jans. Allerdings fand sie alsbald Freunde, die sie tatkräftig unterstützten.

Und weil diese Freunde Heinz Klaus Metzger und Rainer Riehn hießen, ließ die Überraschung nicht lange auf sich warten: Schon im zweiten Jahr reiste die Galionsfigur der Moderne, John Cage, im Städtchen mit der größten Basilika  nördlich der Alpen an, im Jahr darauf erschien Helmut Lachenmann … und so ging es weiter: Dieter Schnebel, Mathias Spahlinger, zweimal Karlheinz Stockhausen, Nicolaus A. Huber, Hans Joachim Hespos, Wolfgang Rihm, Klaus Huber, Mauricio Kagel, Gerhard Stäbler, Adriana Hölszky, Violeta Dinescu, Walter Zimmermann, Helmut Oehring, György Kurtág, Rebecca Saunders, Georg Friedrich Haas, Isabel Mundry, Nikolaus Brass, Uros Rojko, Sofia Gubaidulina – sie alle stellten sich in Weingarten einem zahlenmäßig zwar kleinen, gleichwohl hochinteressierten Publikum vor, begleitet von ausgesuchten Interpreten, die garantierten, dass die aufgeführten Werke auch so erklangen, wie es sich die Komponisten erdacht hatten. Fast alle Komponisten äußerten sich begeistert von der Weingartener Atmosphäre: die schönen Säle in der Pädagogischen Hochschule hoch neben der Basilika gelegen, das idyllische  Städtchen, das Beisammensein nach den Konzerten in gemütlichen Gasthäusern, die lebendigen Gespräche mit den Komponisten: Solche kleinen Festivals zeichnen sich durch eine wohltuende Konzentration auf die Musik selbst aus. Man wird nicht pausenlos von einem Konzert ins andere gehetzt. Goethes Empfehlung, „alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen“ – bei Weingartens Musiktagen findet man noch die Muße, den Rat des Dichters zu befolgen.

In diesem Jahr hatte Rita Jans den französischen Komponisten Brice Pauset eingeladen. Pauset, 1965 in Besançon geboren, ist seit 2008 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Freiburg. Seine Werke entstanden für so prominente Ensembles wie Arditti String Quartet, Klangforum Wien, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, Ensemble Recherche. Seine Lehrer waren keine Geringeren als Pierre Boulez, Gérard Grisey, Franco Donatoni oder Stockhausen. Im Mittelpunkt der Weingartener Musiktage stand Pausets 2008 entstandenes Monodram für Stimme, Klavier und Live-Elektronik mit dem Titel „Exercises du Silence“, das an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde. Die szenische Darstellung des Werkes in Berlin mit Salome Kammer in der Solo-Partie der Louise du Néant fand eher geteilte Kritiken. In Weingarten ließ sich das Monodram aus verschiedensten Gründen nur konzertant aufführen, was ihm jedoch unerwartet zum Vorteil geriet. Konzertant ist allerdings keine korrekte Angabe, wenn die Darstellerin Salome Kammer heißt. Wenn „die Kammer“ das Podium betritt, entsteht zwangsläufig immer zugleich Theater. Eine Frage der Präsenz. Unsere Bilderleiste oben gibt einen kleinen Eindruck von der Vorführung in Weingarten.

Die Figur der Louise du Néant (deutsch: Louise von Nichts), die von 1639 bis 1694 lebte, ist in mancherlei Hinsicht interessant. Adlig geboren, überfällt sie nach der Predigt eines unbekannten Geistlichen ein mystisches Verlangen nach Askese und Selbsterniedrigung. Sie wird in eine Nervenklinik in Paris eingeliefert, wo sie immer wieder Momente höchster Ekstasen und Selbstkasteiungen durchlebt. Ihre Briefe geben davon einen lebendigen Eindruck. Brice Pauset ordnet die Zustände der Louise nach Themen: Kasteiungen, Erniedrigungen, Demütigungen, Ekstase im Wechsel von insgesamt vierzehn Szenen. Mit seiner Musik für einen Pianisten sowie Live-Elektronik versucht Pauset über die äußerliche Situationsschilderung gleichsam mittels Klang-Psychologie ins Innere der Figur einzudringen, wobei ihn die  vokalen und gestischen Aktionen der Salome Kammer intensiv unterstützen: Sie ist einfach fabelhaft in ihrer Präsenz. Religiöser Wahn als Zeichen psychischer Verletzungen? Pausets Stück ist  zugleich eine spannende Versuchsanordnung. Mit Benjamin Kobler am Klavier, dem Experimentalstudio Freiburg mit Pauset und Olivier Pasquet  (Klangregie und Klangtechnik) gelang eine zwingende Darstellung des Werkes.

Brice Pausets Interesse für die klassische französische Musik des siebzehnten Jahrhunderts inspiriert ihn immer wieder zu eigenen Schöpfungen. In Weingarten hörte man seine „Six préludes“ für Cembalo zwischen zwei Kompositionen von Johann Jakob Froberger und Louis Couperin, bei denen sich der Komponist zugleich als virtuoser Cembalist präsentierte. Als Uraufführung hörte man Pausets „Theorie der Tränen: Schlamm“, eine engagierte Musik als Reflexion auf den Ersten Weltkrieg, für dieselbe Besetzung wie Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“: für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier. Ein sehr sprödes Stück: der Versuch, sich im Klang an die Schreckensbilder des Krieges heranzutasten. In einem weiteren Konzert spielte das Kairos Quartett zwei Streichquartette Brice Pausets, wobei das mit „écrit-récit“ betitelte dritte Streichquartett in seinem freien Gestus fasslicher erscheint als das 1. Streichquartett, das den Versuch unternimmt, gleichsam „Stille“ durch Stille darzustellen. Pausets neuestes Werk „Rasch“ für Violoncello solo gewinnt, nicht zuletzt durch das zupackende Spiel des Cellisten Claudius von Wrochem, eine lebhaft drängende Körperlichkeit. In  einem Künstlergespräch mit den Akteuren seines Monodrams vermittelte der Komponist interessante Einblicke in seine Arbeitsweise. Im nächsten Jahr kommt Helmut Lachenmann wieder einmal nach Weingarten und 2013 heißt der Komponist Mark Andre.

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