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Standbild aus „Powder Her Face“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin. Foto: © Silke Winkler
Standbild aus „Powder Her Face“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin. Foto: © Silke Winkler
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Schwerin: Die höchst sinnlichen Abenteuer einer Duchess in Thomas Adès’ „Powder Her Face“

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Nach einer Inszenierung von Wagners „Tannhäuser“ vor nur wenigen Wochen war die von Thomas Adès’ „Powder Her Face“ das zweite Schweriner Opernprojekt in dieser Saison, und sie war wieder eine Regiearbeit von Martin G. Berger (Premiere: 5. November 2022). Seit der letzten Spielzeit ist er Operndirektor am Mecklenburgischen Staatstheater und hatte bereits mit seiner Version von Ligetis „Le Grand Macabre“ vor fast genau einem Jahr eine Neigung zu eigenwilliger Szenenarbeit durchblicken lassen.

 

Venus als roter Faden

So konträr die Folge Ligeti – Wagner – Adès sich zunächst ausmacht, lässt sich doch ein roter Faden entdecken. Bei allen spielt sexuelle Ausschweifung mehr oder weniger eine Rolle und wird auf der Bühne noch betont herausgestellt. Ligeti geht sie mit Neigung zur Zote an. Das zweite Werk, der „150 Jahre alte Klopper“, wie Berger das Frühwerk Wagners im Vorschauheft für 22/23 nennt (NB: Die erste Version in Dresden hätte die Zeitspanne noch um 27 Jahre verbreitert), widmet der Lust im und am Venushügel schon einen ganzen Akt und das mit merkwürdiger Darstellung. Das dritte und jüngste nun übertrumpft alles. Adès’ 1995 uraufgeführtes Bühnenstück handelt in seinen zwei Stunden vorwiegend von prallem Sex. Während aber Ligeti nur einem kleinen Teil seines diversen Personals Möglichkeiten zu sexuellen Spielchen gibt, bei denen auch Venus mitmischt, und Wagners Venus allein für das Amouröse zuständig bleibt, hatte dafür bei Adès nun eine Sterbliche zu sorgen, aber immerhin eine Frau von Stand, eine Duchess. Ihr Appetit war allerdings überaus groß und vielfältig. Hätte sie der antiken Göttin einiges beibringen können? In Mythologie oder auf Vasenbildern spielt Frau Venus die Rolle einer selbstbestimmten Frau, voll sinnlicher Lust, die vor allem der Fruchtbarkeit oder der Zeugung dient. Berger kam ihr etwas entgegen und begrenzte im „Tannhäuser“ vor allem ihre soziale Fallhöhe, indem er ihr statt eines Ritters eine Queen ins Lotterbett legte, eine Drag-Queen.

Die Assoziation, dass die Duchess in Bergers Deutung von „Powder Her Face“ etwas von einer Venus habe, entsteht im Vorspiel – oder sagen wir lieber im Prolog. Da wird schon lange vor dem ersten Ton der Musik heftig agiert. Die 15 Musiker des farbigen Klangapparates, der Akkordeon, verschiedenste Blasinstrumente, ein paar Streicher, Klavier und Schlagzeuge aufweist, haben noch Zeit, sich zunächst optisch einstimmen zu lassen. Sie sitzen nämlich inmitten des Geschehens, das auf einem um sie herumlaufenden Podest stattfindet. Das kleine Spielareal genügt und wird geschickt genutzt, handelt es sich doch um die Szenerie einer Kammeroper, die Berger sich wie auch bei seinen anderen Inszenierungen von Sarah-Katharina Karl einrichten ließ. Alle werden gewusst haben, dass solch ein Spiel mit Intimitäten wenig für das Große Haus geeignet ist, auch das, dass ein Vorteil darin liegt, die Musiker nicht im Graben verschwinden zu lassen, um beide, Handlung und Musik, enger zu verbinden. Aktuell kommt hinzu, dass mit dieser Oper musikalisch eine neue Spielstätte eingeweiht wurde, die das Mecklenburgische Staatstheater in der Druckerei eines eingegangenen Zeitungsbetriebs gefunden hat. Der hohe Raum bietet bis zu 150 Zuschauern Platz und auf der ansteigenden Tribüne eine große Nähe zum Geschehen. 

Sujet

Thomas Adès, 1971 in London geboren, und sein wenige Jahre älterer Landsmann und Librettist Philip Hesher schildern ihre Protagonistin, die Duchess, als wenig wählerisch. Sie nahm alles, dessen sie habhaft werden konnte, ohne Rücksicht auf die soziale Stellung: Handwerker, Hotelpersonal oder -manager. Von 88 „Eroberungen“ berichtet ihr historisches Vorbild in ihren Memoiren, weshalb sie schon mal in eine Reihe mit Don Giovanni gestellt wurde. Sie ist eine Frau, die in zweiter Ehe einen Duke heiratete, der sie zur Duchesse of Argyll machte. Er ehelichte vor allem ihr Vermögen. Die Scheidung von ihm im Jahre 1963, pikante Fotos und ihr freizügiges Schreiben, das als eine andere Art Register oder Leporello zu lesen ist, lieferten den Stoff  für das Sujet. Ihr Leben, vor allem die drei Jahrzehnte bis zu Ihrem Tod im Jahre 1993, wurde eine Skandalgeschichte und zu einem begehrten Objekt der Klatschpresse. Geschickt teilt das Libretto daher ihre Lebens- und Liebesgeschichte in zwei Teile. Im ersten lernt man die Protagonistin im Hotel kennen, in dem sie zunächst eine Suite bewohnte. Dann wird ihr Leben in Rückblicken nachvollzogen, die bis ins Jahr 1934 zurückreichen, bis zu ihrem Debut in Londons High Society. Weitere Stationen sind ihre Hochzeit im Jahre 1936 und die Scheidung 1953. Akt II reicht vom Prozess 1956 über ein letztes Interview 1970 und kehrt an den Anfangsort zurück, jetzt zur Zwangskündigung im Hotel. Den Lebensbogen von 56 Jahren muss eine, die sie darstellt, daher optisch einigermaßen glaubhaft überstehen. Das erleichtert etwas ein cleverer Einfall im Libretto. In einer der Szenen obliegt es einer Journalistin, der Herzogin ihr Geheimnis für Schönheitstricks abzuringen. Drei seien genannt: Nie zu Fuß gehen! Nie sich Sorgen machen! Mit kaltem Wasser sich waschen.

Der Prolog

Gleich zu Beginn lässt Berger alle vier Mitwirkenden auftreten. Die zwei weiblichen und zwei männlichen Figuren, alle mit silberweißer Perücke, stecken in leichten Bademänteln in Altrosa (Kostüme: Alexander Djurkov Hotter), die notdürftig verdecken, dass darunter nur schwarze Reizwäsche nackte Haut bedeckt. (Der Anblick lässt selbst die Zuschauer frösteln, denn der zugige Druckmaschinenraum darf wegen der Energiekrise nur auf gerade mal 19 Grad erwärmt werden.) Sie halten Schüsseln mit Wasser in Händen, das Element der Venus ebenso wie das der hinduistischen Göttin Lakshmi, die gleichfalls für Glück, Liebe oder Fruchtbarkeit zuständig ist. Sie wird später noch einmal mehrarmig und -köpfig, gewärmt durch einen schmeichelnden Pelzumhang, in einem gestellten Bild zitiert. Zunächst wird allerdings eine Art ritueller Waschung vollzogen, bevor in allen Paarungen, die ein Quartett ermöglicht, die Liebeskunst vollzogen wird, teils wie sie im Kamasutra, den Versen des Verlangens, beschrieben wird, teils wie in Europa üblich. Zeitweise kann das nur an den Bewegungen abgelesen werden, denn ein Tuch verdeckt ab und zu das Treiben züchtig. Es stimmt den Zuschauer dennoch auf das ein, was im weiteren Verlauf sich ereignet, wenn die Musik einsetzt. Das korrespondiert zeitweise wenig mit dem Bühnengeschehen, erzeugt sogar leichte Langeweile. Es bestätigt allenfalls, was in Ankündigungen versprochen wird, dass dieses das erste Opus sei, in dem Fellatio zur Bühnenhandlung gehöre.

Man ist als Zuschauer nicht immer glücklich, obwohl etliche Szenen gut aufgebaut sind. Dazu gehört die im Gericht mit einem riesigen Hampelmann, der der Richter selbst ist. Wie sein von einer Kamera eingefangenes Gesicht hineinprojiziert wird, ist ebenso gelungen, wie die vielen Momente es sind, in der eine Badewanne als ein sehr sprechendes Requisit in die Handlung eingefügt ist. Was fehlt, ist im ersten Akt die Duchess in ihrem Seelenleben zu erfassen. Da bietet der zweite Akt bessere Fälle. Selbst eine Szene wie die im Gericht, bei der sie kaum etwas spricht, gibt ihr Würde. In den Schlussszenen glaubt man ihr dann ihre Verzweiflung über das Schicksal, das sie eingeholt hat.    

Gesellschaftkritik

Mittelpunkt sind jedoch zwei burlesk inszenierte Szenen, die gleichzeitig gesellschaftskritischem Anspruch nachkommen sollen. Vor der Pause erfährt der herzogliche Gemahl ausgerechnet beim gründlich schiefen Liebesspiel mit seiner Gespielin von ihr, dass auch seine Ehefrau ein ausschweifendes Liebesleben pflegt. Helle Empörung überwältigt ihn, was für die erste Sozialthese Beleg sein soll: Männer dürfen, was sie ihren Frauen verwehren. Nach der Pause wird in einer wieder grotesk überzeichneten Gerichtsszene das Scheidungsurteil präsentiert. Die anwesenden Klatschreporter tragen Affenmasken und quittieren des Richters scheinheilige Ausführungen mit trefflichem Gekreisch, während die Duchess alles ungerührt aufnimmt und mit „I don’t care“ aufrecht davonschreitet. Hieraus könnte Kritik zwei abgeleitet werden: Nur eine starke, emanzipierte Frau lebt „ihren Körper, ihre Sexualität, ihren Umgang mit Menschen frei“. Das ist ein Zitat aus dem einzigen Wortbeitrag auf einem Faltblatt, das dem Besucher als Quasi-Programmheft in die Hand gedrückt wird, das also die Absicht der Regie wiedergeben dürfte. Gewährsmann ist der Dramaturg Linus Lutz, der mit Cornelia Zink spricht, der Darstellerin der Duchess, und nach ihrem Rollenverständnis fragt, einem, das die Regie vorbestimmt haben dürfte. Da aber das ganze Spiel gnadenlos und grotesk verzerrt ist, wohl um allen Peinlichkeiten des Sexszenen zu entkommen, dringen diese Weisheiten kaum durch.

Rollen

Cornelia Zink ist also eine der vier Akteure, zugleich die einzige, die nur einen Charakter zu verkörpern hat. Das löst sie in den vielen Altersstufen spielerisch und stimmlich sehr überzeugend ein. Die zweite Sopranistin ist Morgane Heyse, zuständig für vielerlei und deshalb darstellerisch grandios gefordert. Sie ist Zimmermädchen und Gespielin zunächst des Elektrikers, dann des Dukes, sie ist weiterhin Kellnerin, Vertraute, Zeitungsäffchen bei Gericht und Gesellschaftsjournalistin. Es mag noch mehr sein. Ihre Stimme gestaltet die Koloraturen und Sprünge erstaunlich sicher, zugleich klangschön. Die Männerstimmen entsprechen dem hohen Niveau der Damen. Der Tenor Sebastian Köppl als Elektriker und Salonlöwe, als Kellner, als männlicher Zeitungsaffe oder als Hotelpage komplettiert zudem das Trio der hauseigenen Sänger, während der Bass, Bart Driessen, der einzige Gast ist. Er hatte aber bereits mit Morgane Heyse in einer Fassung mitgewirkt, die Berger 2019 im Kasino der Volksoper Wien aufgeführt hatte und jetzt an seiner neuen Wirkstätte aufwärmte. Diese Bassrolle fordert eine klangvolle Stimme in allen Bereichen und mit großen Ambitus. Sehr sicher überstand er alles.

Gerade der Einsatz in zwei Szenen nacheinander ist ein geschickter Clou des Komponisten. Vor der Pause mimt er den nagetrunkenen, zum Sex mit seiner Gspusi nicht mehr fähigen Duke und gleich danach ist der bigotte Richter. Das hat inneren Witz.

Die musikalische Leitung hat der neue 1. Kapellmeister Levente Török. Er und das sensible Orchester können nicht verhindern, dass im ersten Akt Musik und Handlung nicht recht zusammenpassen. Adès komponierte sehr feinsinng etliche Anspielungen hinein, etwa die an eine schummrige Tangokneipe oder die von Broadway-Hits. Das setzt sich auf der Szene assoziativ nicht durch. Besser wird es wieder im zweiten Akt, wenn dort Walzeranklänge einsetzen oder der sensiblen Duchess Musik aus dem Rosenkavalier ins Herz träufelt. Auch der ihren Rauswurf begleitende Anklang an einen Marche funèbre gehört dazu.

Fazit

Eine Inszenierung hat Berger gebracht, die in vielem überzeugt, manches aber doch zu achtlos behandelt. Das liegt vor allem an dem überbordenden Spiel im Prolog, auf das zum Schluss zurückgeführt wird, aber zu sehr die Gesamtrichtung bestimmt.

  • Weitere Vorstellungen: 18. November, 8. und 12. Dezember 2022 jeweils 19.30 Uhr in der M*Halle

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