Nicht weniger als zehn der 161 Veranstaltungen des Bachfestes 2018 waren dem Kunstlied, liedähnlichen Formen mit Kammerensembles und weltlichen Solokantaten in kleinen Besetzungen gewidmet. Mitgezählt spartenübergreifende Beiträge – ausgelassen Veranstaltungen, die in Form und Besetzung als Kammer-, Sakral- oder Orchesterkonzert definiert werden könnten. Damit ist das Bachfest durch Umfang und Repertoirebreite neben den Lied-Schwerpunkten beim Heidelberger Frühling, bei der Schubertiade Schwarzenberg, dem Liedsommer Eppan oder den Star-Petitessen der Münchner und Salzburger Festspielen bestens aufgestellt.
Schon jetzt hat der geistliche „Leipziger Kantaten-Ring“ (33 Kantaten, 12 Konzerte, 1 Open-Air-Gottesdienst in 48 Stunden vom 6. bis 7. Juni) einen Platz in der Chronik der intensivsten und aufwändigsten Musikfestival-Projekte. Auch im Zyklus „Passion“ mit Werken von Keiser, Zelenka, Graupner und natürlich Bach ist der Anteil der Vokal- gegenüber der Instrumentalmusik im 2018 außergewöhnlich hoch. Seit Jahren zeichnet sich neben und in den thematischen Hauptsträngen des Bachfestes die überaus starke Präsenz des sogar an renommierten Konzertorten in eine Seitennische abgedrängte Sparte des Lieds ab: In beglückender Erinnerung sind zum Beispiel Liedkonzerte mit Orgel im Reger-Jubiläumsjahr 2016 und des Männerquartetts Thios Omilos 2017. Überregional bekannt wird dieser wie zufällig sich kristallisierende Schwerpunkt des Bachfestes allerdings kaum, weil Medien vor allem über die großen Konzerte berichten und Liedprogramme in diesem Kontext nicht das Interesse anreisender Feuilletonisten gewinnen. Denn diese Nische passt nicht in die Erwartungshaltungen.
Dabei sind räumliche und strukturelle Voraussetzungen nahezu ideal: Neben den großen Konzerten reisender Barock-Ensembles beteiligen sich zahlreiche Leipziger Einrichtungen (zum Beispiel Schumann- und Mendelssohn-Haus), die Hochschule für Musik, die Oper Leipzig, das Gewandhausorchester oder Konzertvereine wie Steffen Schleiermachers „Musica nova“ und steuern eigene Beiträge mit Analogien oder Reibungsflächen zum Jahresthema „Zyklen“ bei. Ein riesiges Potenzial also, das „klassische“ Liedprogramme mit raren Preziösen von Clara Schumann und Fanny Hensel-Mendelssohn genauso beinhaltet wie eine bis in den Frühbarock verlängerte Werkauswahl in der Reihe „Ausgezeichnet“, die Bachpreisträgern der letzten Jahre ein Forum gibt. Nicht zu vergessen Juwelen im Format „Bach unterwegs“ mit Bus-Exkursionen zu Konzerten an historischen Orten und Instrumenten. Mitten im Gartenreich Wörlitz überraschten der Altist Andreas Pehl und das Ensemble Raccanto die Teilnehmer mit Telemann-Kantaten.
Das Spannende an der Häufung zum „Zufallskonzept“ ist, dass hier nicht nur die Eliten des Liedgesangs oder eine Meisterklasse hochbegabter Debütanten paradiert und sich auf das romantische Kernrepertoire beschränkt. In seiner Vielfalt bildet der nicht eigens gekennzeichnete „Lied-Block“ im Bachfest Leipzig ein repräsentatives Qualitätsspektrum ab: Hier wird altes und neueres Repertoire nicht nur zelebriert, sondern in kontrastierenden und spannenden Programmierungen erlebbar.
Das reicht von dem bewegenden Bariton Tobias Berndt, der mit dem Romantik als Kontrastkosmos von Emotion und Bitternis artikulierenden Alexander Fleischer einen verfochtenen Kranz aus Liedern von Fanny und Felix windet. Ein hochkarätiges Duo konzertierte im Konzertsaal des Mendelssohn-Hauses Musik für maximal 100 Hörer. Szenenwechsel: Im Grassi-Museum gibt es Olivier Messiaens selten zu hörende „Chants de terre et de ciel (1938)“ mit der Bach-Sängerin Julia Sophie Wagner, die sich mit ihrem schlanken Sopran dort eine sieghaft sinnliche Fülle erobert und zeigt, dass Steffen Schleiermacher neben seinem CD-Zyklus mit Eisler-Liedern sich noch viel umfangreicher dem jüngeren Liedschaffen widmen sollte. Vor allem bei Konzerten an diesen urbanen Orten mischen sich internationale und einheimische Gäste, die für solche Veranstaltungsreihen eine bemerkenswerte Anhänglichkeit zeigen.
Der gerade 30jährige Tenor Patrick Grahl, der seit Erhalt des Bachpreises 2016 international von Rom bis Argentinien mit der Gächinger Cantorey und Daniele Gatti durchstartet, mischte Telemann-Kantaten, gespielt vom Michaelis Consort, und von ihm favorisierten Lied-Wiederentdeckungen von Ernst Pepping und Wilhelm Weismann. Es ist auch eine vokale Erkundung, wenn Patrick Grahl seine Expertenschiene als Evangelist verlässt und vom schlank genommenen Barock das Spektrum Richtung expressive Melodik ausweitet. Telemanns Solokantate „Ich hass und fliehe zwar die Liebe“ ist durch ihre lyrische Ironie eine fantastische Etüde für die im Liedgesang so wichtigen Wechsel von Andeutung, Nachdruck, Behauptung und nicht zuletzt die Balance der Ausdrucksnuancen.
Natürlich gibt es auch äußerst publikumsfreundliche Angebote aus Schemellis und Bachs geistlichen Liedern mit Schumanns „Dichterliebe“ als Filetstück. Aufregend ist allerdings, wie in der langen und Kontraste vorsätzlich aufreißenden Matinée Patrick Grahls, eine unmittelbare Erfahrung: Es gibt verschiedene Ebenen und Wege zur Perfektion, die sich im Liedgesang oft als polierte Glätte zeigt. Beim Bachfest erlebte man dagegen einen aktiven, facettenreichen Diskurs.
Besuchte Veranstaltungen:
- No 79 Zyklus! – Di 09.06. / 20:00 Uhr / GRASSI Museum für Angewandte Kunst / O. Messiaen: Chants de terre et de ciel (1938) – O. Messiaen: Quatuor pour la fin du temps / Julia Sophie Wagner (Sopran) • Ensemble Avantgarde: Peter Schurrock (Klarinette), Andreas Seidel (Violine), Veronika Wilhelm (Violoncello), Steffen Schleiermacher (Klavier / musica nova e. V.)
- No 113 Ausgezeichnet / Fr 15.06. / 11:30 Uhr / Alte Börse / R. Schumann: Sechs Gedichte von N. Lenau und Requiem, op. 90 - Werke von H. Schütz, J. S. Bach, G. Böhm, E. Pepping u. a. / Patrick Grahl (Tenor − 1. Preis beim Internationalen Bach-Wettbewerb Leipzig 2016), Klara Hornig (Klavier) • Mitglieder des Michaelis Consorts: Anne Kaun (Violine), Felix Görg (Violone), Arve Stavran (Cembalo, Orgel)
- Liederzyklen von F. Hensel-Mendelssohn und F. Mendelssohn Bartholdy / Tobias Berndt (Bariton), Alexander Fleischer (Klavier)