Furchtbar und schön, wie La Dame Blanche aus dem Schundroman, so ragt im Schatten der Burgruine von Badenweiler das stillgelegte Grandhotel Römerbad. Denkmalgeschützt, heruntergewirtschaftet. Eine Legende. Ein historischer Ort. Memento mori! Einst, seit den Siebzigern, war dieses Haus ein Treffpunkt der musikalischen Moderne gewesen. Würde sich doch heute ein orientalischer Prinz finden oder sonst ein reicher Liebhaber, der es wieder wachküsst und neu belebt, auch den oktogonalen Hofsaal restauriert und mit Kunst und Konzerten füllt, ohne dabei auf schnelle Rendite zu schielen! Wie oft ist dieser Wunsch schon so oder ähnlich gedacht worden? Schließlich: Jeder, der ins nüchtern betongegossene Kurhaus nebenan pilgert, um sich die Konzerte der Badenweiler Musiktage anzuhören, muss an diesem Geisterhaus vorbei.
Diesmal, Anfang November, kommen besonders viele, das Kurhaus ist voll. Eine Ära geht zu Ende. Summa summarum 531 Konzerte mit 159 Komponisten hatte der Hotelier Klaus Lauer im Laufe von 45 Jahren veranstaltet, 33 Uraufführungen hat er ermöglicht, Auftragswerke fürs Römerbad, von Boulez, Ligeti, Rihm oder Widmann (nicht wenige wurden im Hotel komponiert). Jetzt gibt Lauer auf, er will sich nach 45 Jahren nebenberuflicher Kuratorentätigkeit zur socalled „Ruhe“ setzen. Längst hat er es zigfach bewiesen, dass für zeitgenössische Musik ein Publikum neu gewonnen werden kann (ähnlich, wie in der zeitgenössischen Kunstszene auch), wenn man es nur ernst nimmt und gut behandelt; wenn man zugleich die lebendige ästhetische Entität ins Zentrum der Konzerte rückt, auch Parallelen zu den anderen schönen Künsten aufzeigt und außerdem in die Geschichte zurückblickt, das Neue im scheinbar Bekannten aufsuchend und die Verbindungslinien hörbar machend, die von einem Komponisten zum nächsten führen. Diese Lauer-Dramaturgie hat längst Kreise gezogen bis nach New York, Luzern, Heidelberg oder Salzburg. Zum Abschied indes servierte er Beethoven pur, nichts weiter. Warum keine Uraufführung, nichts Neues?
Einem so kundigen, aufmerksamen Publikum wie dem nach Badenweiler angereisten, muss das eigens erläutert werden. Beethoven, so Lauers Ansage zu Beginn, sei nunmal „der modernste Komponist von allen“. Danach trat das Quatuor Danel an, um exakt diese stolze Sentenz einzulösen in enorm schnellen, enorm scharf und klar durchgestalteten Interpretationen. Es spielte alle sechzehn Streichquartette Ludwig van Beethovens in der Reihenfolge ihres Entstehens, legte ein ums andere Mal, von den rappelig-borstigen Scherzosätzen, den verlöschenden, traumseligen Adagios aus op.18 bis hin zum letzten, kunstvoll konventionsumspielten, nachkomponierten Finalsatz zu op.130 die Widerhaken und Brüche dieser Werke offen, über die sich Beethovens Zeitgenossen einst ärgerten, über die aber Generationen, die später kamen, staunten, von denen sie lernten.
Und es ist, um mit Schumann zu sprechen, dieses Lernens kein Ende, über individuelle Freiheit und kollektive Vernetzung, über die tiefen Kontraste zwischen Lyrik und Kontrapunktik im Leben, Querbezüge und Rückblicke. Das Danel-Quartett hält sich riskanterweise weitgehend an die von Beethoven gewünschten Tempi. Es spielt bestechend synchron, ist penibel, fast pedantisch, in Phrasierungsfragen, hörbar geschult an Neuer Musik, aber ebenso souverän im Umgang mit vibratoarmen Farben, die sich der historischen Aufführungspraxis verdanken. Diese belgische Quartettformation, die sich mit den Einspielungen aller Streichquartette von Mieczyslaw Weinberg einen Namen gemacht hatte, formierte sich 2013 neu, als der Cellist Yovan Markovitch, früher beim Ysaye-Quartett, ins Team kam. Seither hat sich das Klangbild enorm weiterentwickelt, zwei starke Pole in den führenden Außenstimmen, Primarius Marc Danel und Markovitch wetteifern darum, wovon auch die symbiotische Mitte, mit Gilles Millet an der zweiten Violine und Violaspieler Vlad Bogdanas profitiert. Und in dem ausdruckstarken Pianissimo-Legato, das sie in den verinnerlichten Choralpassagen der späten Quartette colla parte gestalten, zart bis an die Grenze des Hörbaren, wie aus einem Atem fließend, sind diese vier einfach einzigartig.
Am Ende gab es Jubel, stehende Ovationen und das Versprechen: Das Danel kommt wieder, „mit etwas Modernem“. Das nächste Programm für die Musiktage Badenweiler im April 2018 hat bereits, ganz in Lauers Sinn, Nachfolgerin Lotte Thaler kuratiert. Sie kreuzt Debussy mit Bernd Alois Zimmermann und Tristan Murail. Es geht also weiter, in Badenweiler, auch Prinzen werden weiterhin erwartet.