Der Schweizer Komponist Daniel Ott (Jahrgang 1960), Professor für Komposition und Experimentelles Musiktheater an der Universität der Künste Berlin, hat im Jahr 1990 das Festival Neue Musik Rümlingen im Kanton Baselland gegründet. Dieses Jahr findet es im Tessin statt. Georg Rudiger hat mit ihm für die nmz über Klänge im Freien, Utopien auf dem Monte Verità und über das Ende der Welt gesprochen.
Sehnsuchtsort am Ende der Welt
neue musikzeitung: In diesem Jahr präsentieren Sie gemeinsam mit Lydia Jeschke beim Festival Neue Musik Rümlingen 21 Uraufführungen, und zwar fast ausschließlich im Freien. Warum ist es für Sie wichtig, die Musik in die Natur zu bringen?
Daniel Ott: Generell ist uns die Verbindung von klanglichem Experiment mit respektvollem Gespür für die Umgebung und Natur wichtig. Wir erreichen damit ein anderes Publikum als andere Uraufführungsfestivals wie die Donaueschinger Musiktage oder die Wittener Tage für neue Kammermusik. Es kommen vor allem Menschen aus der Region zu uns, die sich für ihre Landschaft interessieren und neugierig sind, was wir damit anfangen.
nmz: Alle zwei Jahre sucht sich das Festival Rümlingen, das eigentlich im Kanton Baselland beheimatet ist, einen besonderen Ort aus. Nach dem Ennstal im Engadin 2019 und dem Appenzellerland auf den Fußstapfen von Robert Walser 2021 gehen Sie in diesem Jahr ins Tessin. Finisterre – Ende der Welt – heißt das Motto. Warum das Tessin? Und warum steht es für das Ende der Welt?
Ott: Zunächst hat uns vor allem der Monte Verità oberhalb von Ascona interessiert mit seinen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Utopien. Um die Jahrhundertwende war damals eine Endzeitstimmung zu spüren – aus dieser Ohnmacht heraus suchte man auf dem Monte Verità einen Neuanfang mit Vegetarismus, Pazifismus, Feminismus und Anarchie. Zum anderen ist das Tessin auch durchzogen von Pilgerwegen. Einer davon ist der Tessiner Anschlussweg zum Jakobsweg nach Santiago de Compostela, der sich bis zum Kap Finisterre am Atlantik erstreckt.
Das Festival beginnt am 28. Juli auf dem Monte Verità mit der Uraufführung von Lukas Berchtolds „Grazien“. In der Siedlungsgemeinschaft, die sich ab 1900 auf dem Berg niederließ, spielte auch der Ausdruckstanz eine große Rolle.
nmz: Wird auch bei „Grazien“ getanzt?
Ott: Ja. Der Bildende Künstler Lukas Berchtold hat sich vom Tänzer und Choreographen Rudolf von Laban inspirieren lassen, dem Begründer des deutschen Ausdruckstanzes. Und er arbeitet zusammen mit der Tessiner Choreographin Nunzia Tirelli, die viele Jahre einen Laban-Kongress auf dem Monte Verità organisiert hat. Tänzerinnen aus verschiedenen Generationen werden bei „Grazien“ mitwirken.
Für den Folgetag hat die Komponistin Stephanie Pan mit dem niederländischen Künstlerkollektiv Het Geluid einen Spaziergang entwickelt mit verschiedenen Ideenstationen zum Monte Verità.
In Manos Tsangaris' „close up – lontano“ erhalten die Besucher auf Liegestühlen eine „Hörmassage“ durch einzelne Musikerinnen und Musiker.
nmz: Unter der Überschrift „Die Reise des heiligen Brendan“ fahren die Künstler und das Publikum am 30 und 31. Juli mit dem Schiff auf die Brissago-Inseln.
Ott: Dieser an eine Pilgerreise aus dem 6. Jahrhundert erinnernde, von Mario Pagliarani kuratierte Festivalteil bezieht sich auf Musik von Hildegard von Bingen – und musikalische Reflexionen von Komponisten wie Guillaume de Machaut, György Ligeti und Salvatore Sciarrino. Carola Bauckholt und Caspar Johannes Walter haben neue Werke dazu geschrieben, die in einer Kirche ohne Dach auf der kleinen Brissago-Insel unter dem nächtlichen Sternenhimmel uraufgeführt werden.
nmz: Wie hat sich das Festival im Laufe der Jahrzehnte verändert?
Ott: Gerade holen wir gezielt deutlich jüngere Menschen mit in unsere Programmgruppe, damit wir das Spektrum der Ideen erweitern und die Verantwortung irgendwann in andere Hände übergeben können.
nmz: Gehen Sie mit dem Festival auch in Zukunft in jedem zweiten Jahr an andere Orte und Landschaften der Schweiz?
Ott: Die Trilogie geht eigentlich mit dieser Ausgabe zu Ende. Aber der Kanton Baselland, der uns hauptsächlich unterstützt, war so begeistert von diesem Kulturaustausch, dass wir das Konzept vielleicht fortführen.
nmz: Was ist für Sie das Besondere in der kommenden Festivalausgabe?
Ott: Wir hatten uns noch nie zuvor mit sozialen Utopien auseinandergesetzt. Durch das Thema „Monte Verità“ ist das Interesse im Vorfeld groß. Das Tessin ist ein Sehnsuchtsort, nicht nur für die Schweiz.
Nähere Informationen
- Festival Neue Musik Rümlingen: Finisterre 28.7.–1.8.2023 - www.neue-musik-ruemlingen.ch
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