Kein Mensch kann über seinen Schatten springen, auch nicht Thomas Ádes, der 32 Jahre junge Darling der britischen Komponistenszene, dessen bereits erstaunliches Œuvre mit einer vielversprechenden Flüssigkeit, Vielseitigkeit und Prägnanz aufwartet, der am Klavier selbst den kniffeligsten Werken seiner Zeitgenossen bravourös gerecht wird und dies am Dirigentenpult wiederholt. Im Februar erlebte dessen vom Royal Opera House Covent Garden in Auftrag gegebene erste dreiaktige Oper „The Tempest“(„Der Sturm“) nach William Shakespeares gleichnamigen und zugleich letzten Schauspiel ihre schon im Vorfeld heiß diskutierte und mit Spannung erwartete Uraufführung. Dass das Publikum vor Begeisterung tobte und sich die Kritik nahezu ausnahmslos in ihrer bisherigen Beurteilung von Thomas Ádes bestätigt fühle, ja ihn zum unumstrittenen Nachfolger eines Benjamin Britten und Michael Tippett kürte, ist allerdings kein Garant, dass es sich bei diesem Werk um eine bahnbrechende Repertoireerweiterung handelt.
Im Gegenteil – Ádes erwies der Kunstgattung einen Bärendienst. Dieses wohl eher zu gekonnt, ja zu elegant geschriebene, doch banale Sammelsurium aus der Mottenkiste von Purcell bis eben leider nicht Busoni, Reimann, Ligeti oder Birtwistle, sondern bis Wagner, Puccini und gerade noch ein wenig Richard Strauß besaß rückläufigen Charakter und schien mehr darauf bedacht, es allen Recht machen zu wollen und die Vergangenheit zu bewältigen, als Neuland zu erobern. Das Publikum genoss den Abend, eingelullt in eine allseits zugängliche Atmosphärik von klangillusteren Vorspielen, angenehmen Arien, Duetten, Ensembleszenen und durchkomponierten Dialogen mit geringfügigem „zeitgenössischem“ Touch, aber ebenso gefesselt von einem Bühnengeschehen, das die technischen Möglichkeiten eines modernen Hauses voll auslotete.
Die Szenerie unter endloser Verwendung von Laserstrahlen glich einem überdimensionalen Laptop in ständig wechselnden Stellungen (Regie: Tom Cairns, Design: Tom Cairns und Moritz Junge, Beleuchtung: Wolfgang Göbbel). Ein schmerzloses, auf Wirkung bedachtes Spektakel in einer stimmlichen Traumbesetzung und mit einem dem Dirigenten Thomas Ádes willig folgenden Orchester, ein Spektakel, das an Stelle von Fragen und Konfrontation der Konvention, im besten Fall noch einer Art englischer Tradition huldigte. Mit dem Spaßmacher Trincolo (Lawrence Zazzo) durfte darin selbstredend auch ein Counter Tenor nicht fehlen.
Nur, wenn sich die Oper des 21. Jahrhunderts weiterhin hinter dem Proszenium und damit ohne den Mut, den überalteten Rahmen zu sprengen, in Klischees badet und selbst musikalisch keinerlei radikale, unserer Zeit entsprechende musikalische Ansätze formuliert, so hat sie ihre Aufgabe verfehlt. Am gleichen Haus hatten vor Jahren Stockhausen mit „Donnerstag aus ‚Licht‘“ und Birtwistle mit „Gawain“ mögliche Klangstrukturen für ein neues Opernfirmament angezeigt, doch bereits die spätere Ankündigung von Ligetis „Le Grand Macabre“ fiel dem Rotstift um Opfer. Die Vorlage von Shakespeares „The Tempest“ wäre in den richtigen Händen durch-aus dafür geeignet, dieses Firmament um eine beängstigende Variante zu erweitern. Aribert Reimann bewies dies mit seinem „Lear“ – und auch Prospero ist ja bei weitem kein abgeklärter Heiliger, sondern eine zwiespältige, der Magie mächtige Figur, die erst einmal Strafe sucht, bevor sie vergibt.
Doch wagt man sich an Shakespeare, muss man sich darüber im Klaren sein, dass seine Sprache eine eigene Musik atmet, die keine Erweiterung oder Überlagerung erlaubt. Man muss die Quintessenz des jeweiligen Stückes herausfiltern, ihr ein völlig neues Libretto zugrunde legen und dann seinen eigenen musikdramatischen Vorstellungen folgen – Verdi und Reimann haben dafür den Weg gewiesen, nicht aber Britten und Tippett, weil sie sich zusehr an der Vorlage orientierten. Letzteres geschah auf fast noch dubiosere Weise mit „The Tempest“. Meredith Oakes hatte Ádes ein Libretto verfertigt, das Shakespeare komprimierte und es sich erlaubte, den verbliebenen Text in an Shakespeares Sprache orientierte, leicht verständliche Reimfolgen zu verwandeln.
Dieses zweifelhafte Unterfangen schien sich an dem Motto „Reim dich oder ich fress dich“ orientiert zu haben und entspricht einer Persiflage. Schlimmer noch, Ádes’ durch und durch ehrliche Partitur, wiewohl von extremer gesanglicher Schwierigkeit für die Solisten, erlaubt bis auf Ariel eine seltene Verständlichkeit der Textbanalität; die zusätzlichen Textprojektionen machten es unmöglich, sich diesen Reimen zu entziehen, so beispielsweise der abschließende Dialog zwischen Prospero (Simon Keenlyside) und seinem Bruder Antonio (Johan Daszak): „To call you brother I’have no wish/Still I’ll forgive“, worauf die Antwort folgt: „You will forgive at no cost/You’ve won I’ve lost…“.
Lediglich mit Ariel gelang Ádes eine außergewöhnlich vibrierende musikalische Überhöhung, eine Koloraturpartie, deren Anforderungen alles Bisherige in diesem Fach sprengt und in Cyndia Sieden eine kaum überbietbare Interpretin fand. Besaßen alle Partien ihren eigenen musikalischen Charakter, so blieb es am schwächsten um Prospero bestellt. Diese zentrale Figur besaß kaum eine Entwicklung und glich eher einem Beamten, der sich an all jenen rächte, die zu seiner Entlassung beigetragen hatten. Zu den Höhepunkten zählten die extrem lyrischen Duette zwischen Prosperos Tochter Miranda (Christine Rice) und ihrem Geliebten Ferdinand (Toby Spence) und dem Sohn des Königs von Neapel (Philip Langridge).
Insgesamt jedoch hinterließ die Oper einen faden Geschmack, da Ádes sein ganzes Bestreben darauf richtete, Shakespeares ureigener Musik, jedoch in Gestalt des Librettos, eine ästhetisches, klangschönes Ambiente zu bieten, statt dem von Prospero auf der Insel menschlicher Zwietracht und endlicher Hoffnung beschworenen Spuk in eine unserer Zeit gemäße brutale, aufrüttelnde Allegorie zu verwandeln.
Der Abgesang Calibans (verkörpert von Ian Bostridge), jenes animalischen Triebtäters in uns allen, kam einer solchen Möglichkeit noch am nächsten. Immerhin dürfte die Uraufführung noch lange nicht aller Tage Abend sein, da sich Ádes, der unter erheblichem Zeitdruck stand, zu wesentlichen Revisionen entschloss. Schließlich handelte es sich um eine Koproduktion mit dem Königlichen Theater in Kopenhagen und der Opéra National du Rhin in Straßbourg. Eine endgültige Version wird somit noch auf sich warten lassen.