Das Schleswig Holstein Musik Festival macht es möglich. Gleich zweimal ließ sich herausragende Sinfonik am gleichen Ort erleben, an zwei Tagen nacheinander, beide Male mit bejubelten Orchestern und bemerkenswerten Dirigenten. Die Programme versprachen zudem das Besondere, hielten allerdings beide nicht Wort, einmal mit einer positiven Erweiterung, das andere Mal mit enttäuschendem Ersatz.
22. Juli 2022
Orchester spektakulär – Das Festival Orchester unter Krzysztof Urbański
Das Festival-Orchester ist in jedem Jahr neu, konstant nur, dass kein Mitglied älter als 26 Jahre ist. Wer das erfüllt, kann sich bewerben, wird in Nord- oder Südamerika, Asien, Europa sowie im Nahen Osten, also eigentlich überall auf der Welt, vor Ort angehört und geeignet gefunden oder nicht. Die 22 Holzbläser zum Beispiel kommen in diesem Jahr aus Frankreich, Italien, Österreich, Portugal, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn, auch aus Mexiko, Südkorea und den USA. Nur fünf von ihnen stammen aus Deutschland. Ein Ensemble mit weit über hundert Instrumentalisten findet so zusammen und ist in dieser Anzahl extremen Besetzungsanforderungen gewachsen, wie eben der von Sergei Prokofieff in seiner „Skythischen Suite“ oder der von Igor Strawinsky im „Le Sacre du printemps“, die in der zweiten Arbeitsphase erarbeitet wurden. Sie zu einem Klangkörper zusammenzuschweißen oblag Krzysztof Urbański, der sich immerhin mit einer Geigerin polnisch, in seiner Muttersprache, unterhalten konnte. Er war nach Adam Fischer der zweite der Dirigenten, vor Omer Meir Wellber und Christoph Eschenbach, dem Principal Conductor, der seit 1988 dabei ist. 1987, im Jahr davor erst, hatte Leonard Bernstein diese Talentschmiede aus der Taufe gehoben. In Erinnerung an ihn wurde der angesehene Leonard Bernstein Award geschaffen, ein Preis, der in jedem Jahr vergeben wird. 2015 erhielt ihn Krzysztof Urbański, der nun selbst für den weiteren Erfolg der Orchesterarbeit zuständig war, der zudem den diesjährigen Gewinner des Awards schon einmal präsentieren konnte. Es ist Sean Shibe, der vor gerade 20 Jahren im schottischen Edinburgh geborene Gitarrist.
Urbański liebt extravagante Programme. Was er sich in diesem vorgenommen hatte, war offensichtlich so, dass es etliche Zuhörer verstörte, denn Konzerte mit dem so begeistert aufspielenden Orchester sind beim SHMF zumeist ausverkauft – diesmal, ein Corona-Effekt (?), nicht. Zunächst wurde das Konzert zudem nur mit Igor Strawinsky und John Adams beworben. In der Ballettmusik verschreckte wohl immer noch der handgreifliche Skandal der über 100 Jahre zurückliegenden Premiere, während Adams, der 1947 geborene Amerikaner, schlicht zu unbekannt ist. Beide Werke zusammen hätten zudem keine 2-Stunden-Länge ergeben. Ist das der Grund, dass ein Werk hinzugefügt wurde, mit dem die Besucher allerdings erst am Abend selbst überrascht wurden? Es passte hervorragend in den Zusammenhang, zumal Prokofieff nachgesagt wird, er habe Strawinskys „Sacre“, wenige Jahre vorher uraufgeführt, gut gekannt. Beide Ballettmusiken, so weiß man, sind zudem von dem Ballettimpresario Sergei Diaghilev initiiert und haben ein mythisches oder sagenhaftes Sujet. Beide Partituren betonen deshalb ein rhythmisch stark akzentuiertes, häufig eruptiv sinnliches, aber archaisches Klangbild. Da ist Adams Komposition eine kontemplative Zwischenmusik, die den geradlinigeren Prokofieff von dem raffinierten Strawinsky trennt.
Dennoch fordern beide Partituren nicht nur eine riesige Besetzung, auch herausragende Fähigkeiten der Instrumentalisten und des Dirigenten, der beide Werke auswendig dirigierte. Das Wuchtige des urtümlichen altslawischen Märchenstoffs fängt Prokofieff im „Allegro feroce“ des ersten Satzes, dem Geistertanz im zweiten, dann in dem gefühlvollen Nachtstück und einem ungestümen Finalstück ein. Dennoch wirkt sein Stil trotz aller Dissonanzen harmonisch fast simpel und durch viele Ostinati einprägsam und mitreißend. Urbański betonte das Tänzerische, setzte es selbst auf dem schmalen Podium mit Hüftschwüngen und bewegten Schritten um, nicht zuletzt auch zur Freude der jungen Instrumentalisten, die sich vital einsetzten.
Ganz im Gegensatz dazu stand John Adams ungewöhnlich farbenreiches „Mother of the Man“. Das langsame, ruhig, fast träge dahinziehende Stück ist der Mittelsatz einer dreiteiligen Sinfonie „Naïve and Sentimental Music“ aus dem Jahre 1999. In ihr beschäftigt er sich zugleich mit Anton Bruckners Kompositionsstil und Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“. Eine besondere Farbe gab die von Sean Shibe gespielte Gitarre mit Stahlsaiten im Dialog mit einem Fagott. Die elektrische Gitarre schien allerdings nicht an allen Stellen in der Lautstärke richtig austariert zu sein. Mal klang sie zu vordergründig, mal verschwand sie im Orchesterklang.
Der „Sacre“ allerdings war in dieser Interpretation eher äußerlich. Schon der „Introduction“ fehlte manche Feinheit. Wenn auch die Artistik dieser Partitur stürmisch und exakt eingefangen wurde, überwog doch ein stampfendes Pathos, das manche Feinheiten überdeckte, das schließlich auch der Dirigent mit seinem Tanzdirigat herausforderte. Sein überaus anspruchsvolles Programm lässt sich wohl doch nicht in einer nur kurzen Probenwoche bis ins Letzte einstudieren, begeisterte allerdings das Orchester wie die Hörer.
23. Juli 2022
BBC Philharmonic Orchester unter Omer Meir Wellber
Immer schon hatte das SHMF nicht nur weltbekannte Solisten im Programm, nahezu legendär sind auch die Gast-Orchester. Zwei Beispiele: 2010, als die Zeiten noch besser waren, gastierte das Mariinsky Theatre Symphony Orchestra unter Valeri Gergiew, 2013 waren es die Wiener Philharmoniker unter Lorin Maazel. In diesem Jahr nun berauschten die BBC Philharmoniker, deren Chef seit zwei Jahren Omer Meir Wellber ist. Der umtriebige und viel beschäftigte Wellber ist beim SHMF zudem Porträtkünstler, damit wurde es einmal ein Dirigent nach Solisten wie Sabine Meyer, Janine Jansen, Xavier de Maistre oder Hélène Grimaud.
Für den 23. Juli war ein gewichtiges Programm angesagt. Auf Beethovens 3. Klavierkonzert sollte Leonard Bernsteins 1. Sinfonie „Jeremiah“ folgen, ein Werk aus dem Jahre 1942, und der, nicht ganz ohne Pikanterie, Wagners Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“. Michal Doron, wie Wellber in Israel geboren, zurzeit Altistin in der Semperoper, wäre wohl eine großartige Anwältin für Bernsteins Werk geworden, dessen Lamento-Charakter zu der politischen Situation in der Ukraine dieses Programm geadelt hätte, wohl auch das SHMF. Dass beide, die Sängerin und der Dirigent, zudem Wagner als Gegensatz bringen wollten, hätte die Spannung noch erhöht.
Viele Besucher waren über die Änderung nicht informiert. Erst durch das Programmheft des Abends war zu erfahren, dass nach der Pause Peter Tschaikowskys „Pathétique“ gespielt werden würde. Der Festival-Intendant Dr. Christian Kuhnt trat, wie oft bei gewichtigen Veranstaltungen, kurz selbst vor das Publikum, gab allerdings keinerlei Erklärungen, begrüßte stattdessen das Orchester und lenkte das Publikum ab, indem er es zu einem zweiten Empfangsapplaus aufforderte. Er wusste damit geschickt die Änderung zu kaschieren. Braucht das SHMF den äußeren Erfolg, mit dem es bei Tschaikowsky sicher rechnen konnte?
Solist in Beethovens Konzert war Fazıl Say, der türkische Pianist und Komponist, zudem in seinem Heimatland als Bürgerrechtsaktivist bekannt. Lange schon und immer wieder ist er beim SHMF ein Magnet, auch als er zum Beispiel 2013 mit dem Festival Orchester, damals ebenfalls unter Krzysztof Urbański, Mozarts KV 467 aufführte. Say sah sich wieder nicht im Dienst einer historischen Funktion. Er liebt den spontanen Effekt und unterwarf seine Deutung erneut subjektivem Befinden. Alles wirkt ungemein spontan und authentisch bei ihm, wenn er – vor allem mit der linken Hand – die musikalischen Bögen und Anschlüsse zum Orchesterpart moduliert und wenn er wie aus dem Stegreif seine fein ausgeklügelte eigene Kadenz im ersten Satz formuliert. Möglicherweise war er mit allem der Persönlichkeit Beethovens näher als andere Interpreten. In seiner Zugabe, einer eigenen Komposition, setzte er raffinierte Klangverfärbungen des Klaviers ein. Sie erinnerten an orientalische Tönungen, die Okzidentalem, Banalem und Jazzigem entgegengesetzt wurden.
Nach der Pause brachten das Orchester und Wellber das Publikum aus dem Häuschen. Der Dirigent musste sein Orchester sehr gut kennen, wenn er ihm solch einen Parforce-Ritt durch die virtuose Partitur zutrauen konnte. Alles Schmachtende in Tschaikowskys Sprache wurde durch Rasanz getilgt, die aber auch nicht verhindern konnte, dass nach dem dramatischen ersten Satz, dem huschenden 5/4-Tanzsatz und dem hier übermäßig geschwinden dritten Satz der vierte, das Adagio, blass blieb und auf die Dauer der innere Zusammenhalt brüchig wurde.
Das Publikum erinnerte sich jedoch an den Intendanten und schenkte frenetischen Beifall. Sie brachte schnell die Zugabe, in der Wellber, von seinem Orchester begleitet, seine instrumentale Artistik als Akkordeonspieler mit Astor Piazollas „Libertango“ demonstrierte.
Fazit
Zwei Abende waren das mit zwei Dirigenten nahezu gleichen Alters und Temperaments und sehr ähnlichem genialen Gestus. Das Festival hatte mit ihnen trotz Wermutströpfchen mit herausragenden Konzerten zweimal begeistern können.