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Frank Castorfs Bayreuther „Siegfried“-Inszenierung 2017. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath
Frank Castorfs Bayreuther „Siegfried“-Inszenierung 2017. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath
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Sieben Krokodile suchen Futter: „Siegfried“ bei den Bayreuther Festspielen als umjubeltes Sängerfest

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Wagners C-Dur-Jubel am Ende des „Siegfried“ schwappte über ins Publikum, das auch den dritten Teil der „Ring“-Tetralogie bei den Bayreuther Festspielen mit lang dauerndem, frenetischem Beifall alle Solisten und Dirigent Marek Janowski uneingeschränkt bejubelte. Regisseur Frank Castorf hat auch diese Inszenierung merklich modifiziert und in der Personenregie intensiviert. In Publikumsgesprächen wird allerdings klar, dass seine ungewöhnliche Lesart von Wagners „Ring des Nibelungen“ weiterhin auf nur wenig Zuspruch stößt.

Nachdem der (russische) Bär im dritten Aufzug der im Schlussbild 1942 spielenden „Walküre“ als leeres Fell heiter ins Spiel gekommen war, hat er in der rund um die Wende in (Ost-)Berlin spielenden Handlung des „Siegfried“ nichts mehr verloren; als hätte der die wechselnden Underdogs verkörpernde Castorf-Assistent Patric Seibert verlangt, „lass mich den Bären auch noch spielen“, ersetzt er das von Siegfried zum Angst Einflößen seines Ziehvaters mitgeführte Tier. Der namenlose Dritte in der Wohngemeinschaft Mime-Siegfried in Alberichs blechdosenartigen Campingwagen bleibt an einem Seil gefesselt. Nachdem er sich selbst zum Sklaven gemacht, den Körper schwarz gefärbt hat, buckelt er bei Siegfrieds Hammerschlägen und spielt selbst den Blasebalg. Aber er ist auch der Joker in Mimes Wissenswette mit dem Wanderer, der lesend auch über jenes in Bücherbergen gestapelte Weltwissen verfügt, das der von Castorf – im Gegensatz zum tumben Ziehsohn Siegfried 0150 intellektuell gezeichnete Mime angehäuft hat.

In Aleksandar Denićs Mammutdekoration der sozialistischen Parodie auf den Mount Rushmore mit den in den Berghang gehauenen Köpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao bekommt in diesem Jahr insbesondere der Verfasser des Kommunistischen Manifests Hammerschläge auf die Nase, und im zweiten Aufzug, wo diese imposante, von Baugerüsten umgebene Szenerie weiterhin raum- und sinnbildend bleibt, putzt Seibert aus einem Fensterputzerkorb dem Lenin-Relief die Nase. Unklar bleibt, warum das Schwert Nothung, in der „Walküre“ noch klassisch in zwei Teile zerschlagen, nun gespalten, wie eine Zange, ins Spiel kommt. Erschwert wird das Verständnis des Schmiedevorgangs obendrein, da Siegfried in derselben Zeit auch noch seine Kalaschnikow zusammenbaut.

Realistisch kocht Mime sein Eier-Gericht, und dieses kocht so stark über, dass der weiße Schaum sich über Tisch und Boden verbreitet. Selbst nachdem Seibert die verstreuten Gegenstände rund um das mit TV-Antenne als Dauerbehausung eingerichtete Fahrzeug geordnet hat, sieht es am Ende des ersten Aufzugs rund um den Wohnwagen immer noch aus auf der Straße am Ende eines Flohmarktes; wenn Amerikaner das Regietheater gerne als „German Trash“ bezeichnen, so könnten sie diesen Bühnenraum mit Fug als Paradebeispiel heranziehen.

Verblüffenderweise lokalisiert der Regisseur auch Fafners Neidhöhle an derselben Stelle der Bühne; hier haust nun Alberich in jener Blechbüchse auf Rädern, die er außen mit Zeitungen tapeziert. Zum ersten Erklingen seines Fluchthemas bindet er sich seinen linken Schuh zu – mit den Folgen seines eigenen Fluchs der Liebe hat er nun zu kämpfen. Fafner hingegen lebt auf der anderen Seite des Felsenmassivs, auf dem Berliner Alexanderplatz, mit einem Krokodil als Haustier und gleich fünf jungen Damen, die er soeben im Intershop mit Reizwäsche und Sexspielzeug ausgestattet hat. Über dem Gebirgsrelief verbindet eine Projektionswand die Ästhetik dieses Abends mit der des „Rheingold“: Bilder der ausgestreckten Freundschaftshand und der erhobenen Faust als kommunistischem Gruß.

Flugs ist Siegfried auf der anderen Seite der Drehscheibe, in „der Welt“. Hier kommt er mit dem Waldvogel, einer aufwändig mit Federflügeln ausgestatteten Animateurin (wohl aus dem nahen Friedrichstadt-Palast), schnell in Berührung. Der Waldvogel setzt zur Verführung des mit Frauen unerfahrenen Siegfried einen Strip ein, entsorgt Schuhe und Strümpfe in einen Abfalleimer, aus dem Siegfried dann die Instrumente für die neue Musik hervorkramt. Wie bereits bei Boulez’ Bayreuther Dirigat der Inszenierung von Patrice Chéreau – malt im Graben ein Saxophon grotesk verzerrend Siegfrieds Versuche, die Vogelstimme auf einem Rohr nachzuahmen, hier als ein Spiel mit diversen Plastik-Behältern. Der musikalisch unverändert beibehaltene Hornruf  wird szenisch durch Schläge ins Wasser und durch das Spritzen aus einer Pfütze ersetzt.

Nachdem Siegfried auf Fafner lautstark Schüsse aus seiner Kalaschnikow abgefeuert hat, wird der verblutende Playboy von Seibert als einem Sanitäter mit Erste-Hilfe-Koffer gestützt. Mit unterschiedlichen hohen Stapelstuhl-Bergen zitiert Castorf bei Mimes Versuch, Siegfried zu vergiften, die Szene zwischen Hitler und Mussolini aus Chaplins „Der große Diktator“. Am Ende des zweiten Aufzugs, auf dem in seinen Proportionen verschobenen, aber realistisch nachgebauten Alexanderplatz (dessen Namen in Leuchtbuchstaben auf „lexanderplatz“ verkürzt ist) lernt Siegfried zwischen S- und U-Bahn-Station alles, was von urbanen Wald-Vögeln erlernbar ist.

Im dritten Aufzug gibt der Regisseur dem theatralen Affen Zucker: als sei es eine Boulevard-Komödie, wird hier die oft als Scherzo in der Tetralogie gedeutete Handlung interpretiert. Castorfs Slapstick läuft primär über einen spätsozialistischer Kellner (natürlich spielt den wieder Patric Seibert), der dem Wanderer nur höchst unwillig einen Platz am Klapptisch einräumt, vorsorglich viele „Reserviert“-Schilder aufstellt und beim einsamen Gast mit immer neuen Weinflaschen, aus denen er selbst gerne trinkt,  seinen Reibach machen will; die Rechnung überreicht er dem Wanderer, als der gerade von Erda einen geblasen bekommt. Anschließend macht sich dieser Held der Arbeit wieder als Stasi verdient, notiert an Überwachungs-Bildschirmen, damit er und seine Mit-Spitzel es sich im Geldscheinregen wohl ergehen lassen können. Natürlich fehlt beim Zerrbild auf dem vor der Wende noch leeren Platz auch nicht eine (Nachwende-)Bananen-Szene.

Die Erweckung Brünnhildes und deren erste Begegnung mit Siegfried ist von der Personenführung her spannend und intensiv gearbeitet, wobei eine gigantische, die Wotans-Tochter zunächst verbergende Stoffbahn als Commedia-Tücke das Objekts das ungewöhnliche Spiel der sich immer wieder darunter versteckenden und hervorkriechenden Brünnhilde bestimmt. Siegfried kraxelt nun tatsächlich jenseits der hölzernen Treppen als Naturbursch am Felsenrelief herum.

Während dieser Szene irritiert eine Projektion: ein im Wald weidendes Ross, hinter dem der Wagner-Kenner das mit Brünhilde in Schlaf versunkene Grane vermutet, wird von einem glatzköpfigen Herrn zur Leiche einer blutig erschlagenen blonden Frau in rotem Kostüm geführt, die der Glatzköpfige dann hinter sich her schleift. Auf diese Weise erhält die aufgebaute Scherzo-Stimmung einen erheblichen Dämpfer.

Bei der Verlobungsfeier mit Pizza auf dem Alexanderplatz hat sich Brünnhilde ein Brautkostüm angelegt. Trotz angewachsener Kinderschar rammeln die alten beiden Krokodile, die im ersten Jahr dieser Inszenierung noch allein waren, aber sich jährlich vermehrt haben, fleißig weiter. Die Waldvogel-Darstellerin, nun ohne Federputz, spielt mit den nunmehr platzfüllenden sieben Krokodilen, reitet und liegt auf ihnen und wird – wie in den Vorjahren – dann von einem zur Hälfte verschlungen; Siegfried rettet die Ex-Geliebte aus dem Rachen des Raubtiers, aber seine innige Umarmung mit ihr wird von Brünnhilde gestört, die von Siegfried ihr Recht der ihm eben Angetrauten einfordert – Schlussvorhang.

Diese Fülle von Aktionen und Überaktionen, garniert mit konterkarierenden oder verdoppelnden Video-Projektionen, passiert, ohne dass Marek Janowskis musikalische Interpretation daran irgendeinen Anteil hätte. Als gelte es, die Partitur vor dem Zugriff der Regie zu retten, entfaltet der Dirigent massive Klangmassen, wobei der Deckel des magischen Abgrunds seine Fortissimi kaum abdämpfen kann. Doch die SolistInnen verfügen über Stimmgewalten, so dass sie den zugespitzten Anforderungen in der unnachahmlich sängerfreundlichen Akustik des Festspielhauses gewachsen sind.
Spannend gestaltet Janowski bereits das düstere Vorspiel, und imposant gelingt ihm der Drachenkampf , aber gegen die häufigen rhythmischen Verschiebungen zwischen Graben und Bühne ist er offenbar weiterhin machtlos.

Stefan Vinke singt die Titelpartie von Anfang an mit voller Stimmentfaltung, die Hammerschläge setzt er rhythmisch präzise. Um sich als Heldentenor alter Schule zu präsentieren, dehnt er seine Spitzentöne gerne über Gebühr aus, bis diese ihm fast wegkippen; wiederholt muss er gestemmte Passagen nachträglich in der Intonation justieren. Abgesehen von der Aussprache einiger Endsilben bietet Catherine Fosters stimmliche Gestaltung der Brünnhilde reinen Genuss. Die vom Regisseur angestrebte Diskontinuität wird dadurch noch verstärkt, dass die Partie des Wotan an allen drei Abenden unterschiedlich besetzt ist. Thomas J. Mayer als Wanderer ist stimmlich souverän, in seiner Darstellung weniger hintergründig und auch merklich etwas gesitteter als seine Vorbesetzungen. Im zweiten Jahr vermag Ana Durlovski als Waldvogel zu überzeugen. Karl-Heinz Lehner ist ein der Rollendeutung stimmlich adäquater Fafner. Uneingeschränktes Lob gilt den Leistungen von Nadine Weissmann als Erda, Andreas Conrad als Mime und Albert Dohmen als Alberich.

Den lautstärksten Publikumszuspruch unter den Solist_innen erntete am Premierenabend Catherine Foster, aber noch um einige Phonstärken lauter war der Applaus für Marek Janowski.

Die letzten Aufführungen: 11. und 26. August 2017.

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