Die einen schippern aus Langeweile zum Jux übers Meer, die anderen treibt es aus Elend unter Lebensgefahr aufs Wasser. Hier beschweren sich Touristen über mangelnden Service auf einem Kreuzfahrtschiff, dort hört man einzelne Worte und dann ganze Schilderungen von Bootsflüchtlingen. Die schöne bunte Urlaubswelt bekommt Risse und hinein dringt eben das, was sich zur gleichen Zeit am selben Ort abspielt: Das Schicksal von Menschen, die einer Existenz in Armut, Hunger, Krieg und Folter übers Mittelmeer nach Europa zu entfliehen suchen. Auf dem Orchesterpodium der Kölner Philharmonie herrscht schließlich ein Gedränge wie von Flüchtlingen auf einem viel zu engen Schiff. Die Bühne wird zum Boot, in dem alle sitzen, auf Gedeih und Verderb.
Die Uraufführung von Philippe Manourys „Lab.Oratorium“ erfordert zweihundert Mitwirkende. Unter der Leitung von François-Xavier Roth agieren das Gürzenich Orchester, je zwei Sängerinnen und Schauspieler, das SWR Vokalensemble Stuttgart, die Live-Elektroniker vom Pariser IRCAM und ein hundertköpfiger Laienchor aus Kölner Bürgerinnen und Bürgern. Die halbszenische Dramaturgie und das Libretto stammen von Regisseur Nicolas Stemann. Verbunden werden Texte von Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek, Georg Trakl und Augenzeugenberichte von Migranten und Seenotrettern. Ursprünglich wollte Manoury – wie er in einem Interview vor der Aufführung verriet – auch Live-Statements einbeziehen: „Wir waren in Kontakt mit Leuten von der ,Aquarius‘, dem Schiff, das im Mittelmeer Flüchtlinge aufgenommen hat und wochenlang in keinen Hafen einlaufen durfte. Diese Menschen haben aber so viel erlebt und zu erzählen, dass wir sie nicht nur für fünf Minuten auftreten lassen wollten.“
Der 1952 geborene französische Komponist versteht sein Werk als Oratorium und zugleich als Laboratorium: „Die Partitur hat offene Momente. Der fünfte von insgesamt zehn Teilen blieb unbestimmt, damit Nicolas Stemann hier mit Theater eindringen kann. Ich liefere dazu am Computer in der Art einer Improvisation die Elektronik, die von den Schauspielern mit ihren Stimmen live gesteuert wird, so dass sich Sprache und Klänge rhythmisch exakt verbinden.“ Patrycia Ziolkowska und Sebastian Rudolph führen durch das Geschehen: heißen das Publikum an Bord willkommen, verkörpern Mitreisende, verlesen Berichte und Stellungnahmen zur Flüchtlingskatastrophe. Die Musik tritt streckenweise dahinter zurück, um unvermutet mit scharfen Tuttischlägen loszubrechen. Dann glitzert, funkelt und groovt die Elektronik und singen Rinnat Moriah und Tora Augestad weite Kantilenen. Selbst aus dem Publikum erheben sich plötzlich zarte Stimmen, die sich zu schwebenden Chören verbinden. Zu tumultösen Skalenläufen drängt schließlich die Hundertschaft des Laienchors wild schreiend in den Saal. Der Raum wird bis zum Zerreißen mit Stimmen und Klängen gefüllt.
Analog zu den textlichen Überblendungen von Freizeit- und Flüchtlingsschiff komponierte Manoury vereinzelt auch musikalische Blenden: „Ich habe Passagen mit Rumba, Bongos, Tanz- und Unterhaltungsmusik. Mit den Flüchtlingen verbundene Abschnitte bestehen dagegen eher aus tragischen, dunklen Klängen und Gesängen.“ Immer wieder umkreisen scharfe Blechbläser-Klänge das Publikum. Die Musik schwillt an, wird schneidend laut, tendiert zum Schrei. Es dominieren Kollektive, Tuttis und Menschenmassen, die jedoch textlich unverständlich, abstrakt, nur laut und letztlich ausdrucksschwach bleiben. Bloß einmal wird ein einzelnes Individuum aus der anonymen Masse herausgehoben. Ein Seenotretter berichtet, wie er am 27. Januar 2018 aus dem kalten, stürmischen Mittelmeer in letzter Sekunde ein Baby zog und reanimieren konnte. Erst dieses einzelne Menschenkind macht die existentielle Dimension der Tragödie erahnbar: Ein bestimmter verhinderter Tod, ein besonderes gerettetes Leben, eine ermöglichte Zukunft.
Obwohl Manoury sein Stück auf die aktuelle Flüchtlingssituation bezieht, versteht er es nicht dezidiert politisch wie einige Werke von Henze oder Nono: „Zwei Dinge sind mir wichtig: Wir lassen Menschen sterben, um bestimmte politische Strategien zu bewahren, was für mich absolut unakzeptabel ist. Und es geht um Grenzen, denn darin liegt die Wurzel dieser Tragödie.“ Doch ist der „Luxusdampfer“ Sinfonieorchester samt hochwertiger IRCAM-Soundtechnologie und allem sonstigen Aufwand das richtige Medium für eine Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsdrama? Die Angemessenheit der Mittel ist fraglich. Immer wieder überlagern sich Instrumente, Texte, Sprech- und Singstimmen bis zur Unverständlichkeit. Der Musik eignet etwas Inflationäres und Monströses: Zum Zweck des Ausdrucks der Furie des Verschwindens tausender im Mittelmeer, tobt neunzig Minuten lang eine Furie der Verschwendung.
Manoury selbst sieht keine Diskrepanz zwischen Mittel und Zweck: „Für mich passt das unbedingt zusammen. Ich kann mir nichts Expressiveres vorstellen als ein Orchester. Musik und Gesang sind stärker als Worte. Wir können Dinge damit ausdrücken und erleben, die sich nicht verbalisieren lassen.“ Dem Komponisten geht es um Immersion, um regelrecht körperliche Eindringlichkeit. Das Publikum wird mit im Saal verteilten Instrumentalgruppen und Lautsprechern umgeben: „Die Elektronik bewegt die Klänge und schafft Verbindungen mit dem Orchester, so dass man oft nicht weiß, was und wo die Schallquelle ist. Es gibt auch konkrete Klänge und Schiffshörner.“ Bei der Folgeaufführung in der Elbphilharmonie Hamburg – dann auch in Paris – sollen dadurch auch Bezüge zum Hafen geschaffen werden.
„Lab.Oratorium“ ist nach „Ring“ und „In situ“ Manourys drittes räumlich konzipiertes Werk für das Gürzenich Orchester und dessen Chefdirigenten Roth, dem die komplette Trilogie gewidmet ist. „Es war für mich ein großes Geschenk, gleich drei neue Orchesterwerke schreiben zu dürfen. Dieser Zyklus ist für mich sehr wichtig. Ich versuche darin, das Orchester neu zu definieren, sowohl durch Rundumklang als auch durch Auflösen der homogenen Instrumentenfamilien, ferner durch die Verbindung mit Elektronik und nun auch durch die Öffnung zum Theater.“ Das Resultat indes bleibt hinter diesen Ambitionen und vielen Revolutionen des Orchesters seit den 1950er-Jahren zurück. Klanglichkeit, Gestik und Pathetik verdanken sich der Monumental- und Überwältigungsästhetik des späten 19. Jahrhunderts: Es ist Manourys „Sinfonie der tausend Toten“.