Fritz Langs Film „Eine Stadt sucht einen Mörder“ aus dem Jahre 1931 ist ein Kindermörderklassiker und eine Ikone der Filmgeschichte, in der eine Stadt – Bürger, Staatsbeamte und Kriminelle – einen Mörder jagen. Die Librettisten Barrie Kosky und Ulrich Lenz machen ihn zum Ausgangspunkt ihrer einaktigen Oper.
Anders als im Film steht im Zentrum ihres Werks allerdings der Mörder als von sich selbst getriebenes, verfolgtes, gejagtes Opfer. Eine Fantasie im Kopf des Mörders soll das sein. Als mitleiderregende Kreatur wird er vorgeführt auf schmalem Laufsteg. Hauseingänge und Amtstüren schieben sich scheinbar endlos ziehharmonikaartig hinter ihm vorbei. Er wird gezeigt als gewöhnlicher Mann in Jeans und T-Shirt. Zwischen Luftballons und tanzenden, hüpfenden kleinen Mädchen singt er gelegentlich ein Kinderlied, etwa das vom „Bi-Ba-Butzemann“, räsoniert, lamentiert, barmt viel. Nur, was das für ein Wesen ist, wie es zu bewerten ist, bleibt offen. Die Oper erregt Mitleid mit ihm. Und wo bleibt das Mitleid mit den kindlichen Opfern? Das 100-minütige Werk muss sich den Vorwurf gefallen lassen, in moralisch bedenklichem Gewässer zu manövrieren.
Moritz Eggert, gewiss einer der fleißigsten Gegenwartskomponisten, hat die Musik dazu geschrieben. Seine Vertonung basiert auf einer Kombination von Textpassagen des Drehbuchs mit Kinderliedern und Gedichten von Walter Mehring. Sie laviert geschickt zwischen Oper, Musical und (elektronischer) Populärmusik. Sie schert sich nicht um „Avantgarde“ oder „Neue Musik“, Begriffe, die ohnehin längst obselet geworden sind. Eggert spricht von „assoziativer“ Musik: „Instrumentalklänge, die man in der Kindheit gehört hat. Dazu gehören auch diese 80er-Jahre-Synthesizer-Klänge.“ Er hat sie mit Anklängen an Musik der Zwanzigerjahre verfremdet. Aber auch Texte, vor allem Lieder dieser Zeit, werden vorgetragen, „Warte, warte nur ein Weilchen...“. Ein Ohrwurm aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite fungiert (wie im Film) als Leitmotiv. Immer wieder denkt man beim Hören an Moritatengesang, Kurt Weill und die Dreigroschenoper lassen Grüßen.
Die Produktion ist ein geschickt aufgedonnertes „Sing-Hörspiel“, das nicht kleckert, sondern klotzt. Sprache, Geräusche und Musik vereinigen sich zu einem irisierenden, opulenten Klanggemälde, das den Zuschauer mithilfe eines elektronisch verstärkten und teilweise verfremdeten Surround-Klangs in den Kopf des Mörders entführen soll. Dazu Voice-over, Stimmen aus dem Off, sechs Schauspieler/-innen singen aus dem Orchestergraben. Ein Mix aus Melodien, sphärischen Klangräumen, Drehorgeln, Jazz und Synthesizern ergibt die Sinfonie einer Großstadt, die ein bedrohliches Seelengemälde des Gejagten aus seiner Perspektive sein soll. Nur: Das Seelendrama findet nicht wirklich statt. Weder musikalisch, noch dramaturgisch.
Massen von Kinderstatisten mit Erwachsenen-Wasserköpfen, die zu eindrucksvollen Fratzen mutiert sind, scharen sich um den Mörder, den der texanische Bariton Scott Hendricks verkörpert, der einzige Mensch von normaler Statur in Barrie Koskys Inszenierung auf Klaus Grünbergs schlichter Bühne. Kinder spielen geschrumpfte, verhärmte Erwachsene. Das hat Kosky – zugegeben – eindrucksvoll in Szene gesetzt. Wahnsinn im Kleinformat? Ihre Stimmen – singend und sprechend – erklingen aus dem Orchestergraben. Eine große Herausforderung für den (erweiterten) Kinderchor der Komischen Oper Berlin (Dagmar Fiebach). Moritz Eggert schrieb für das Werk den in der Musiktheaterliteratur wohl größten Kinderchor-Part überhaupt. Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Generalmusikdirektor Ainars Rubikis, der dem Affen Zucker gibt bei der Uraufführung dieser fragwürdigen Auftragskomposition. Ein gewaltiger Aufwand. Nur: musste er sein? Was bringt es, den grandiosen Film zu veropern? Er ist nicht zu toppen, schon gar nicht mit dieser Oper.