Dieses neue Festival geht nach draußen, in die Brandenburger Landschaft. Die „Mühlenbecker Klanglandschaften“ verbinden Aufführungen zeitgenössischer Musik mit Klang-Spaziergängen, Gesprächen und Wanderungen. Ein Bericht von Antje Rößler.
Mühlenbeck liegt im nördlichen Berliner „Speckgürtel“. Die Siedlung mit Kirche, Kriegerdenkmal, Freiwilliger Feuerwehr wird bedrängt von Bundesstraße und Autobahn. Mühlenbecks größter Schatz sind zwei waldumsäumte Seen. Der Summter See wurde nun zum Schauplatz der Mühlenbecker Klanglandschaften, eines Festivals, das auf außergewöhnliche Weise neue Musik und Natur zusammenbringt. Am letzten Mai-Wochenende fand es erstmals statt.
Es handelt sich nicht etwa um eine weitere Serie von Freiluftkonzerten. Vielmehr geht es den Festivalmachern darum, einen gemeinsamen Raum für musikalische Klänge und Naturgeräusche zu schaffen sowie die Kunst der Wahrnehmung zu verfeinern.
So improvisierten der Akkordeonist Teodoro Anzellotti und zwei seiner Studenten im Wechselspiel mit den Naturgeräuschen. Sie bezogen eine morastige Lichtung. Der Klang der Akkordeons wurde verweht vom starken Wind, mischte sich mit dem silbrigen Rascheln der Erlen und dem tiefe Rauschen alter Kiefernwipfel.
Die Klangkulisse des Summter Sees ist auch in ein Gemeinschaftswerk des Musik-Leistungskurses am Berlin-Hermsdorfer Gymnasium eingegangen. Die Schüler waren am Ufer unterwegs. Sie machten dort Feldaufnahmen und haben daraus eine elektroakustische Collage gebastelt.
In den vielfältigen Festival-Projekten spiegeln sich unterschiedlichen Tätigkeitsfelder der drei künstlerischen Leiter wider: die in Mühlenbeck lebende Musikwissenschaftlerin und Publizistin Gisela Nauck, der Musik-Dokumentarfilmer Uli Aumüller sowie der Komponist und Musiklehrer Ludger Kisters.
Gisela Nauck, die das Festival für eine „bundesweit einmalige Sache“ hält, erläutert die beiden Grundideen: „Wir wollen zeigen, wie vielfältig die neue Musik ist; welche reichhaltigen Hörmöglichkeiten sie bietet“, sagt Nauck, die als ehemalige Herausgeberin von „Positionen. Texte zur aktuellen Musik“ die Szene seit Jahrzehnten intensiv begleitet. Die zweite Ausgangsposition: „Angesichts der Klimaveränderungen müssen auch wir in Kunst und Kultur Tätigen unsere Stimme erheben“, ist Nauck überzeugt.
Also haben die Festivalmacher eine Projektgruppe Musik unter dem Dach des Fördervereins Naturpark Barnim gegründet. Als sie vor mehr als zwei Jahren mit der Planung begannen, war die Dynamik der „Fridays for Future“-Bewegung noch nicht absehbar. Nun hat die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung das Festival eingeholt.
Sorge angesichts von Klimakrise
Die „Mühlenbecker Klanglandschaften“ thematisieren die Sorge angesichts von Klimakrise und der dadurch ausgelösten Natur-Veränderungen. Schon die Eröffnung auf dem Vorplatz der Dorfkirche setzte ein deutliches Zeichen. Die Schlagzeugerin Sabrina Ma trommelte sich durch die spröden, scharfkantigen Rhythmen von Iannis Xenakis‘ „Psappha“. Ein 15-Jähriger las dazu aus dem Umweltschutz-Aufruf „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“ von Papst Franziskus.
Dass der Klimawandel nicht nur ferne Wüsten oder Gletscher betrifft, sondern auch vor der Haustür stattfindet, zeigten geführte Wanderungen mit dem Biologen Tim Peschel. Nach einer frühmorgendlichen Vogelstimmen-Führung bot die Lautten Compagney auf der Badewiese barocke Werke, die die Natur lobpreisen.
Vivaldi und Purcell konnten die Natur als paradiesisches Idyll wahrnehmen, als Gegenentwurf zur menschlichen Plackerei. Doch heute haben sogar die Brandenburger Bäume Stress durch Extremwetter, Stickoxide und Güllestaub, wie Tim Peschel auf einer weiteren Wanderung zeigte.
In den Konzerten des Festivals hörte man Musik, die sich auf klanglicher Ebene mit Naturphänomenen auseinander setzt. Vogelgesang inspiriert die Komponisten seit jeher. Meist steht das Tirilieren für beschauliche Heiterkeit – nicht so in Natalia Pschenitschnikowas Performance für Stimme und Electronics „Birds Conservations“, die an die zahlreichen ausgestorbenen Vogelarten erinnert.
Auftragswerke
Eine Veranstaltung widmete sich dem Phänomen Wasser. So bot Ludger Kisters in „Fließ!“ eine live-elektronische Bearbeitung von Klängen aus dem verwunschenen Mühlenbecker Fließtal. In ein Geflecht aus Geräuschen von Wind, Kranichrufen oder Insektensirren verirrten sich Fragmente aus einem „Brandenburgischen Konzert“.
„Fließ!“ entstand als Auftragswerk des Festivals. Ebenso wie Peter Ablingers „Es summt der See“ für drei Mini-Orchester und drei Megaphone, die Vogelgesang ebenso wie das Rauschen der nahen Autobahn zitieren. Ein dritter Festival-Auftrag ging an Peter Helmut Lang, dessen „Vogelpredigt“ über den Heiligen Franziskus von Assisi vom Chor des Hermsdorfer Gymnasiums gesungen wurde.
Drei beim Festival uraufgeführte Auftragswerke – das kann sich sehen lassen angesichts eines ausschließlich projektfinanzierten Mini-Budgets von nicht mal 50.000 Euro. Gisela Nauck schätzt, dass mehr als die Hälfte der von allen Beteiligten eingebrachten Arbeit ehrenamtlich geschah.
Zu den Formaten, die im ländlichen Raum besonders gut funktionieren, gehören Klang-Spaziergänge. Einen derartigen Parcour hatte das Ensemble Atonor um Erwin Stache auf die Beine gestellt. Stache brachte auch seine Kuckucksuhrenorgel mit, die unter dem Motto „Kuckucke aller Länder, vereinigt euch“ musiziert. Bei einem zweiten Parcour beschallte der Männerchor aus Schönwalde den Summter See mit einem Repertoire von Schubert bis zu Rammstein.
Schließlich fand man sich zum Abschlusskonzert auf der Badewiese ein. „The Unanswered Question“ von dem amerikanischen Naturfreund und Freigeist Charles Ives erklang hier in einer neuen Summter-See-Fassung: mit dem Kreismusikschulorchester, vier Flöten und einem Trompeter (Paul Hübner), der „die ewige Frage der Existenz“ vom Boot aus über die Wasserfläche raunte. Auch ein Rohrspatz, der in einer Erle am Ufer saß, leistete seinen Beitrag.