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João Terleira, Henryk Böhm. Foto: Susanne Reichardt.
João Terleira, Henryk Böhm. Foto: Susanne Reichardt.
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Single-Blues frei nach Homer: „Ulysses“ von Keiser in Schwetzingen

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Beim Winter in Schwetzingen gelangt Keisers 1722 für Kopenhagen entstandener „Ulysses“ zur Premiere und wurde bejubelt. Reinhard Keiser ist heute – trotz der Wiederentdeckung seiner Opern „Croesus“ und „Fredegunda“ noch immer unterschätzt. Insgesamt gibt es in Keisers „Circe, oder des Ulysses erster Teil“ (1702), „Penelope und des Ulysses ander Teil“ (1703), „Ulysses“ (1722) und „Circe“ (1734) reichlich Musik für mehr als einen Abend.

Das veranlasste den dirigierenden Editor und die Regisseurin der Produktion des Theaters Heidelberg im Schlosstheater Schwetzingen zu einem zweistufigen, weil musikalischen und dramaturgischen Pasticcio des „musikalischen Schauspiels in drei Aufzügen“. Clemens Flick übernahm in den nicht vollständig erhaltenen „Ulysses“ mehrere Arien, Rezitative und Instrumentalsätze aus Keisers anderen Odysseus-Vertonungen. Nicola Raab versetzte das Spielgeschehen in eine „Bar Ithaka“.

Dort bastelt ein Anthony Quinn in „Alexis Sorbas“ ähnelnder Seebär (Klaus Brantzen) an Homers Handlungsstrippen. Er schubst einsame Menschen auf ihrer erfolglosen Suche nach ein bisschen Liebe herum. Das ist eine feine Begründung für die Eingriffe der Keiser-Opern in die originale Handlung bei Homer. Die Zauberin Circe wird bei Keiser von einer Episoden- zur Hauptfigur, gewinnt dadurch mehr Attraktivität als die eigentlich schönere, aber monoton traurigere Arien singende Penelope. Das wiederum schafft szenische Freiräume, in denen Erotik, Spaß und Ernst zu Humor werden könnten – oder nicht. Bei Nicola Raab, die dem glücklichen Ende Homers nicht trauen will, sind die Verhaltensfunktionen der binären Geschlechter eindeutig: Frauen verführen oder leiden, Männer fliehen. Zwischentöne fehlen weitgehend.

Das Heimkehrschicksal des nach 20 Jahren aus dem Trojanischen Krieg und erotischen Inselabenteuern zurückkommenden Ulysses spiegelt Friedrich Maximilian von Lersners Textbuch an dessen einzig überlebenden Gefährten Eurilochos und der treu wie Penelope wartenden Cephalia. Gleich vorausgeschickt: Ein glückliches Leben bekommen Odysseus und Penelope, die am Tresen versauert und vereinsamt, von Nicola Raab nicht. Odysseus gibt der Frau neben sich zwar Feuer zu einer letzten Zigarette, diese schlüpft dann hurtig in ihren unauffälligen Mantel und lässt Ulysses zu den Klängen fröhlicher Musik allein.

Offenbar traut Nicola Raab weder Männern noch Frauen. Ulysses erhält im Schwetzinger Rokokotheater die Attribute „ausgefuchst“ und „abgebrüht“. Das miese Männerbild dieser Bar-Ballade mit Tristesse-Garantie ist das von Kerlen auf der Flucht. Männer als vagabundierende Wesen, die ohne Grund mal schnell Zigaretten holen und dann Jahre nicht wiederkommen. Ganz durchhalten lässt sich dieses Jammertal aus den 1970ern aber nicht. Denn der Tenorino João Terleira geht als Barkeeper recht emsig, fast eine Spur zu sympathisch ans Werk und nimmt sich bei der Schichtübergabe sogar Zeit für ein Schäferstündchen mit der Kollegin Cephalia (Theresa Immerz). Eurilochos packt an, während die Herren Gäste in die Röhre gucken und in einer von Flick erfundenen Szene aneinander geraten. Henryk Böhm alias Ulysses blickt in einer Unterweltszene frei nach Homer in einen Spiegel und damit auf den ihm ähnelnden, aber mit Mut zu kantiger Expression singenden Andrew Nolen als Urilas.

Da prallt Nicola Raabs Milieustudie auf Metaphorik à la Botho Strauß und hebt sich das Geschehen aus den Untiefen von Retro-Homers Kneipenerzählungen mit ihrem leichten Dunst von Bier und Ouzo in die Metaphern-Redseligkeit des Barock: Penelopes Traum vom Glück lässt Madeleine Boyd als Bild mit arkadischer Landschaft vom Bühnenhimmel fallen. Sie legt mit Faveola Kett ein grobes Spinnennetz von Bändern über die Szene. Immer zwischen „Seemann, deine Heimat ist das Meer“ und „Seemann, hast du mich vergessen“.

Das Schlager-Starlet Circe muss schon im karrieristischen Tiefflug sein, wenn sie in dieser kleinen Kneipe in unserer Straße singt, „Ein Schiff wird kommen“ aber trotzdem nicht zu ihrem Repertoire gehört. Dora Pavlíková ist als flotte Circe in einem Sphinx, Sirene, attraktives Freiwild unter Pailletten-Garnitur und Verliererin. Aber Urilas kann bei Penelope, deren alltagsgraue Stimmung sich bei der ausdrucksmächtigen Jutta Böhnert sogar auf die Stimme legt, kaum ans Ziel seiner Wünsche gelangen.

Clemens Flick ist mehr im freien Umgang mit dem Notenmaterial als mit dessen stilkonformer Anwendung beschäftigt. Wenn Odysseus sein großes Schwert schwingt, rauscht das Philharmonische Orchester Heidelberg in erotomanischen „Rosenkavalier“-Klangräuschen auf. Wenn Ulysses‘ symbolkräftige Waffe zum Dolch schrumpft, fallen auch die musikalischen Zitate zusammen. Hier, in den komponierten Meereswellengängen und bei Keisers Naturtönen ist die mit Theorbe und Cembalo erweiterte Kammerbesetzung am besten. Sehr genau und trocken geraten die Rezitative, weil die Instrumentalbesetzung ganz auf den Meister am Pult konzentriert ist, deshalb sich untereinander und von den Sängern eher wenig an synergetischer Rundung ablauscht.

Als sich vor dem nüchternen Sperrstunden-Nocturne alle Solostimmen zu burlesken Klängen unter dem Bühnenportal ihr Stelldichein geben, klingen sie vital und sogar üppig. Der temporäre Witz, die Schärfe und die Fragezeichen, mit denen sich Kneipengäste flüchtig paaren und entzweien, kommen vor allem aus Ulrike Schumanns neuen Texten. Ein Happyend ist – anders als Odysseus’ Sieg und der Utopie-Funke seiner Wiedervereinigung mit Penelope beim vormodernen Homer – nicht vorgesehen. Insofern enthält Raabs Mythos-Überschreibung eine Anleitung zum Unglücklichsein, in der nicht einmal die Eckkneipe mehr ein rettender Hafen vor den Drangsalen des genderkorrekten Alltags ist. Fazit: Das Meer ist heute die Heimat nicht nur für Seebären, sondern auch für Seefrauen und Sirenen. 

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