Seine Zweifel an der Weltlage um 1970 hat Leonard Bernstein tief in sein Musiktheater-Hybrid „Mass“ eingraviert. Für ein Repräsentationsstück geriet der Werkauftrag von Jackie Kennedy, der Witwe des 1963 ermordeten US-Präsidenten, zur Eröffnung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington D.C, extrem skeptisch. Vor der Uraufführung am 8. September 1971 hatte „Lenny“ Bernstein den Jesuiten und politischen Aktivisten Daniel Berrigan mehrfach im Gefängnis besucht und bei ihm Rat für das von ihm mit Stephen Schwartz verfasste Textbuch geholt. Am 26. August feierte das komplizierte Opus als Event zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens am Theater Münster eine frenetisch umjubelte Premiere.
Sinnsuche und Ovationen: Bernsteins „Mass“ in Münster
Die katholische Messliturgie überschrieben Leonard Bernstein und Stephen Schwartz mit großen Zweifeln des Priesters (The Celebrant), der Ministrierenden, einer bunten Gemeinde und der Gläubigen. Anfang der 1980er Jahre kam das Werk an die Wiener Staatsoper, später in den Vatikan und vor 25 Jahren boten sogar die Erfurter Domstufen dem Stück eine eindrucksvolle Kulisse. Eine anrührende Frage stellt der Komponist in seiner etwa 110-minütigen, pausenlosen und mindestens fünf Mal auf Tonträger veröffentlichten Komposition: Was bleibt, wenn der Lack ab ist vom Nimbus des Dogmas und der Glaubwürdigkeit des Ritus? „Mass“ ist also weitaus mehr als ein Repräsentations- und Gelegenheitswerk.
Um sich der Relevanz von Bernsteins Toleranz-Aufruf 52 Jahre nach der Uraufführung zu vergewissern, reichte leider schon der Weg zur Premiere: Eine Dragqueen musste sich auf dem roten Teppich zum Theatereingang mit wehrhaften Repliken gegen Beleidigungen eurasischer Halbstarker verteidigen. Die Eröffnung des Stückes schließt direkt unfreiwillig an die Szene an: Ein hoher Sopran intoniert zu Beginn der „Mass“ das Kyrie eleison, das Bernstein aber so perfide komponiert hat, dass Frau diese Stelle gar nicht hundertprozentig richtig singen kann. So wird der vorangegangene Welt-Zweifel zu Klang. Bernsteins unruhiges Spiel mit Gospel-, Blues-, Rock-, Pop- und Spiritual-Elementen streift anarchische Auflösungsandeutungen.
Unnötiger Kampf zwischen Komposition und Inszenierung
Für den Genre-Mix ist die philharmonische Truppe des Sinfonieorchesters Münster mit einem Percussion-Apparat vorn auf der Bühne und einer Band-Formation hinten auf der Bühne angereichert. Überhaupt ist sehr viel los: Am Ende lässt Stefan Rieckhoff die kleinteiligen Glasfenster der Kirche hochziehen – gleißendes Licht fällt in den düsteren Sakralraum mit den künstlichen Elektrokerzen und dem vereinsamten Priester, den hin und wieder ein kleinerer Gefährte als Alter Ego begleitet. Heerscharen von Ministrierenden ziehen auf, aber auch ebenbürtig viele verneinenden Geister in schwarzen Trikots mit Skelett-Linien. Aus dem Graben hört man wegen der Klang- und Stimmmassen auf der Bühne oft viel zu wenig.
Dabei hat Bernstein räumlich und transparent komponiert. Thorsten Schmid-Kapfenburg, der Münsteraner Kapellmeister und Komponist, könnte das zeigen. Aber das Soundteam ist gegen ihn und dreht die Lautstärken voll zu einem starken Wellengang mit hohem Phon-Pegelstand auf. Die Feinheiten bleiben also weitgehend auf der Strecke und das Ensemble mangelnd subtiler Anleitung einiges von dem schuldig, was Bernstein seiner Messe an Allgemeingültigkeit und Universalität über die modischen Kicks und Zeitgeistigkeiten hinaus implantiert hatte. Der Regisseur Tom Ryser hält sich zwar am Messe-Ritus fest, findet über den Dualismus von Weiß und Schwarz aber keine differenzierten Bewusstseinsfarben. Während die Chöre (einstudiert von Anton Tremmel) noch Ansätze zur Differenzierung erkennen lassen, verbindet Lillian Stillwells Choreografie eine stereotype Figur mit der nächsten.
Darunter leidet auch der eigentlich ideale Bariton Samuel Schürmann in der zentralen Partie des Celebrant. Schon zu Beginn steckt in jeder seiner liturgischen Kantilenen ein kleiner Riss oder Stachel. Er hat das Potenzial Richtung Schluss viel aus den Momenten menschlicher Ehrlichkeit, Zerrissenheit und Einsamkeit zu machen, ausgerechnet dann drückt die Regie ihm aber eine beliebige Musical-Geste nach der anderen auf. Die Inszenierung läuft lange als Mass-Show ab, bis es kurz vor Schluss stiller wird. Diese Pause für die Ohren ermöglichte endlich jene Intensität, die Bernstein wollte.
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