Dass Polen musikalisch weit mehr zu bieten hat als den zu seinem 200. Geburtstag viel geehrten Chopin, davon konnte man beim diesjährigen Schleswig-Holstein Musik Festival einen Eindruck bekommen. Polen war der Länderschwerpunkt gewidmet. Neben vielen Konzerten mit polnischer Musik und/oder polnischen Musikern – sensationell war etwa die konzertante Aufführung von Polens wichtigster romantischer Oper „Halka“ von Stanisław Moniuszko in Kiel –, wurde in verschiedenen Konzerten auch die lebendige Jazz-Szene vorgestellt, etwa mit dem Pianisten Leszek Mozdzer. Andere Konzerte streiften das Unterhaltungsmusik-Genre, zum Beispiel mit dem Motion Trio mit drei Akkordeons und pfiffigen Arrangements, oder mit der Warsaw Village Band mit einer Mischung aus Punk und traditioneller Musik, oder mit der Gruppe Kroke mit Klezmer aus Krakau.
Chopin, mit dem verstorbenen Papst Johannes Paul II. sicher der bekannteste Pole weltweit, war natürlich in vielen Konzerten beim Länderschwerpunkt Polen des Schleswig-Holstein Musik Festivals zu hören. Staunen machte etwa die ungeheure Perfektion, mit der der noch immer sehr jung wirkende Rafał Blechacz – der 2005 der Warschauer Chopin-Wettwerb gewann – je eine Ballade, Scherzo und Polonaise darbot. Respekt! Wenngleich man dem 25-jährigen Meisterpianisten wünschen würde, dass er sich mehr freispielte, dass er mehr Risiko einginge. – Ganz anders dagegen die aus Georgien stammende Elisabeth Leonskaja, eine Grande Dame der Pianistenszene. Wieviel Leidenschaft und gelebtes Leben, wieviel Empfindsamkeit, Melancholie und Feuer sprach aus ihrem Chopin. Welch subtiler Klangsinn, welche Spannung!
Zu den Kontrastprogrammen zu den vielen Chopin-Konzerten zählte etwa auch ein amüsanter Abend im Theater Neumünster mit dem Wuppertaler Kabarettisten Steffen Möller, der seit vielen Jahren in Polen lebt, der ein lesenswertes Buch (Viva Polonia) geschrieben hat, in dem er polnische wie deutsche Eigenarten humoristisch auf Korn nimmt, Auszüge daraus wurden in Neumünster in kleinen Sketchen geboten. Im Interview erzählte Möller von den „zwei Seelen“ der polnischen Mentalität: die slawischen Wurzeln einerseits und die katholische Religion andererseits. Diese Spannung spiegelt sich auch in der polnischen Musik. Wer sich drauf einlässt, wird Faszinierendes erleben. Etwa in der 3. Sinfonie von Henryk Mikołaj Górecki. Nicht zuletzt wegen ihres meditativen Charakters hat diese „Sinfonie der Klagelieder“ – so der Untertitel – nicht nur in Polen Kultstatus erreicht. Es ist zugleich ein sehr typisches Werk für Górecki, der sich in den 1970er-Jahren mehr der geistlichen Musik zuwandte. Góreckis 3. Sinfonie erklang beim Eröffnungskonzert des Länderschwerpunktes Polen in Kiel. Dabei wurde das Orchester „Sinfonia Varsovia“ von einem der vielversprechendsten, ungeheuer beeindruckenden jungen Dirigenten Polens geleitet: Krzysztof Urbanski. Urbanski gelang es, die knapp 50-minütige, nur scheinbar sehr schlicht gehaltene, ereignisarme Sinfonie ungeheuer spannungsvoll zu gestalten. Ein Ereignis, das zeigte, wie wenig Effekt Musik braucht, um zu berühren. Da ließ einen die Aufführung von Krzysztof Pendereckis opulentem „Polnischem Requiem“ in Hamburg vergleichsweise kalt.
Komponisten wie Karol Szymanowski, Witold Lutosławski, Górecki sind in Deutschland durchaus bekannt, sie wurden in den letzten Jahren zumindest gelegentlich gespielt. Namen wie Mieczysław Karlowicz oder Alexandre Tansman werden nur wenigen vertraut sein. Das Amadeus Chamber Orchestra des Polnischen Rundfunks hatte unter anderem eine Serenade des früh verstorbenen Mieczyslaw Karlowicz bei seinen drei Konzerten in Schleswig-Holstein im Programm. Dabei beeindruckte die Sensitivität und Energie der Dirigentin Agnieszka Duczmal.
Einige wenige Konzerte des Schleswig-Holstein Musik Festivals waren auch einem schwierigen Kapitel des deutsch-polnischen Verhältnisses gewidmet, der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Eines der bewegendsten und hochklassigsten Konzerte des gesamten Festivals fand in der Hamburger Kampnagel Fabrik mit dem Aperto Piano Quartett statt. Werke von Constantin Regamey (1907–82), Józef Koffler (1896–1944) oder Szymon Laks (1901–82) standen auf dem Programm. Mit dem Konzert wurde die Ausstellung „Musik im okkupierten Polen 1939–1945“ eröffnet, die in Hamburg und Kiel gezeigt wurde. Regameys Quintett zum Beispiel wurde heimlich 1944 in Warschau in einer Privatwohnung uraufgeführt. Witold Lutosławski schrieb nach dem Krieg in seinen Erinnerungen von einer „sensationellen“ Uraufführung, von „einem ... völlig unabhängigen Werk“. Die Ausstellung „Musik im okkupierten Polen 1939–1945“ – die auch beim diesjährigen Warschauer Herbst zu sehen war, die im November in der Hochschule Hanns Eisler in Berlin zu sehen sein wird – beleuchtet die verschiedensten Aspekte des Musiklebens in Polen während der deutschen Besetzung, chronologisch und geographisch – es werden die Aktivitäten in Warschau, Krakau oder Lemberg gezeigt –, und es wird die Situation in den Ghettos und Konzentrationslagern dargestellt. Recherche, Konzept und Szenario wurden von der Musikwissenschaftlerin Katarzyna Naliwajek-Mazurek von der Universität Warschau entworfen. Es waren ab 1940 von den Nationalsozialisten nur noch einige primitive Formen der kulturellen Zerstreuung erlaubt.
Was künstlerisches Niveau hatte, wurde verboten. Das professionelle Musikleben verlagerte sich in die Cafés, in Privatwohnungen und in den Untergrund. Noch weit schwieriger war die Gestaltung des Musiklebens in den Gettos und Konzentrationslagern. Auf 40 Tafeln, die graphisch fantastisch gestaltet sind, die eine ungeheuer genaue und umfangreiche Recherche zeigen, erfährt man über die Schicksale zahlreicher Musiker, über ihre tägliche Bedrohung. Dazu liefern Dokumentar-Filme aufschlussreiche Bilder.
Musikbeispiele an Audiostationen geben einen Eindruck von der Intensität der Musik, die den Menschen Kraft gab, und die wir heute wiederentdecken können. 2011 soll die Türkei Länderschwerpunkt sein. Bleibt zu hoffen, dass das Schleswig-Holstein Musik Festival, das im Zuge der rigiden Sparmaßnahmen im Kulturbereich in Schleswig-Holstein mit der Abführung seiner Rücklagen von 1,1 Millionen Euro an das Land einen hohen Beitrag leistet und weitere Einsparungen hinnehmen muss – zum Beispiel bei der wichtigen Spielstätte Salzau, die die Musiker der Orchesterakademie nicht mehr beherbergen soll – sein Niveau halten kann.