Das politische Feuilleton tut es, die Politiker tun es, die Stammtische tun es sowieso: Seit der Ermordung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh läuten sie gemeinsam das Ende der multikulturellen Gesellschaft ein. Leitkultur, Mehrheitskultur, Monokultur, Kampf der Kulturen, das sind nur einige der neuen Schlagworte für die alte Maxime: „Lasst uns in Frieden. Wir wollen unter uns bleiben.“ Dass diese Tendenzen parallel zur rasant sich entwickelnden Globalisierung entstehen, ist kein Zufall, sondern typische Begleiterscheinung von Migrationen.
Das Fremde erzeugt Angst. Es kann aber auch Produktivität frei setzen. Was im besten Sinne geschehen kann, wenn verschiedene Kulturen aufeinander prallen, lässt sich gut am Jazz verfolgen. Die Migrationsbewegungen innerhalb der USA und hinein in die USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren wichtige Voraussetzung für das Entstehen einer Musik, die man heute Jazz nennt. Im Jazz trafen sich vor allem afrikanische und europäisch-nordamerikanische Kultur. Jazz war vieles: Ethnie, Unterhaltung, Geschäft. Jazz stärkte die Moral der Truppe im Krieg gegen Nazideutschland. Jazz wurde aber auch Ausdruck der neu erwachten afroamerikanischen Identität nach diesem Krieg. Und für den weißen Teil der Bevölkerung entwickelte er sich zu einem intellektuellen Nebenzweig der Popkultur, mit der Hippies und 68-Revolutionäre gegen ihre Väter aufbegehrten.
Szenenwechsel: Berlin ist ein anschauliches Beispiel für den cultural clash in Europa: früher Trennlinie, heute Bindeglied zwischen Ost und West; eine Stadt aufgeteilt in westdeutsche, ostdeutsche und türkische Quartiere. Kulturell immer in Bewegung zwischen bunter Alternativ- und repräsentativer Hochkultur. Ein fester Bestandteil dieser multikulturellen Metropole ist seit vierzig Jahren das Jazzfest Berlin. Anfang November feierte sich das große deutsche Jazzfestival jedoch nicht nur selber, sondern thematisierte die Idee des Jazz: eine Musik als Resultat von Akkulturation.
Der künstlerische Leiter, Peter Schulze, fühlt sich längst nicht mehr allein auf amerikanische Stars angewiesen: „Derzeit entsteht in Europa eine sehr heterogene, von vielen Kulturen beeinflusste und geprägte Musik. Ob man die nun Jazz nennt oder nicht, ist eine zweitrangige Frage.“
Bewährte europäische Künstler wie seine Vorgänger Albert Mangelsdorff oder George Gruntz waren mit der NDR Big Band zu Gast in der Philharmonie: Eine Reminiszenz an Zeiten als der Jazz noch als Synonym für Freiheit stand und daher noch großen Hof halten konnte im geteilten Berlin. Heute findet sich dagegen das Berliner Jazzfest als ein weiteres potenzielles Opfer auf der Streichliste der ARD-Rundfunkanstalten. Der Begriff Europa stand dieses Jahr wiederum für Avantgarde und Experiment. Billy Jenkins hatte seinen Spaß mit den Fun Horns, Gerd Dudek bot „Klassisches“, Iain Ballamy und Stian Carstensen machten große Kleinkunst, etwa mit ihrer Version von Hanns Eislers „An den kleinen Radioapparat“. Aki Takase spielte mit ihrer Band Fats Waller-Kompositionen, ein Programm, das inzwischen auch mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde.
Herausragend, wenn auch umstritten, war der Auftritt des britischen Saxophonisten Denys Baptiste. Sein Programm „Let Freedom Ring“ bot große afrobritische Musik im Geiste der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre. Fragwürdig jedoch die optische Beigabe, ein Multimediaset der VJs Marc Silver und Marc Francis, das Folter- und Gewaltszenen aus vier Jahrzehnten wild durcheinander mixte.
„Let Freedom Ring“ basiert auf Martin Luther Kings berühmter Rede „I have a dream“ – hier schloss sich der Kreis zwischen den Anfängen 1964 und dem Jubiläumsfest. King hatte zur Eröffnung des 1. Jazzfestes, damals noch Berliner Jazztage, ein Geleitwort geschrieben, das in seinen Kernaussagen heute noch Gültigkeit hat. „Viel von der Macht unserer Freiheitsbewegung in den Vereinigten Staaten ist aus dieser Musik gekommen. ...Und heute wird Jazz in die ganze Welt exportiert. Denn im Kampf des Schwarzen in Amerika steckt etwas allgemeingültiges für den universellen Kampf des modernen Menschen.“
Dieses Credo war auch 2004, vierzig Jahre nachdem King diese Worte den Jazzfestgründern als Geleitwort schrieb, im Konzertprogramm zu entdecken. Das Jazzfest Berlin feierte einen vor Vitalität sprühenden Rückblick: mit Retro-Jazz als höchster Gegenwartskunst und zeitgenössischem Jazz, der sich seiner politisch-spirituellen Herkunft bewusst war.