Jahr für Jahr werden neue Kompositionen für große sinfonische Orchester geschrieben und uraufgeführt: In Donaueschingen, in der Münchner „musica viva“, beim Stuttgarter Éclat-Festival und in der „Musik der Zeit“-Reihe des Westdeutschen Rundfunks Köln, sogar bei den Salzburger Festspielen, in Berlin, natürlich auch in Paris, London, bei „Wien modern“ und „Warschauer Herbst“, und selbst die mittleren Kulturorchester, die vorwiegend Oper spielen, entwickeln in ihren Sinfoniekonzerten einigen Uraufführungsehrgeiz. Es steht also zum Besten?
Wer viele dieser aus der Taufe gehobenen Werke „live“ hören und erleben kann, fragt sich danach oft, ob es denn zwingend gewesen sei, für das eine oder andere Stück ein groß besetztes Sinfonieorchester aufzubieten. Ob nicht in Anbetracht der formalen und inhaltlichen Substanz einer Komposition diese bei einem der qualifizierten Spezialensembles à la Ensemble Modern, Klangforum Wien oder Ensemble Intercontemporain besser aufgehoben wäre. Oft gewinnt man den Eindruck, besonders jüngere Komponisten, zunächst überwältigt von der instrumentalen Fülle eines Großorchesters, wüssten danach dann nicht so recht, was sie damit anfangen sollen. Das Ergebnis ist additiver Leerlauf von einzelnen Klangerfindungen, die zu selten einen zwingenden Sinnzusammenhang ergeben.
Neue-Musik-Institutionen wie die „musica viva“ des Bayerischen Rundfunks oder die Donaueschinger Musiktage finden ihr programmatisches Zentrum im großen Orchesterauftritt mit neuen Werken, die überwiegend von den Veranstaltern auch in Auftrag gegeben werden. Musiktage dieses Zuschnitts haben nicht die Funktion von Festspielen, auf denen nur gelungene Kompositionen präsentiert werden, sie sind in erster Linie Laboratorien, in denen frisch Komponiertes sorgfältig einstudiert und anschließend im Konzert präsentiert wird. Die größtmögliche und dringend zu fordernde Perfektion der Interpretationen ist an den beiden genannten Neue-Musik-Stätten glücklicherweise garantiert. In Donaueschingen durch das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden/Freiburg, bei der „musica viva“ durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Bei beiden Orchestern haben Komponisten die Garantie, dass ihren Werken höchste Aufmerksamkeit von Seiten engagierter Musiker gewidmet wird.
Das war jetzt auch wieder im dritten Saisonkonzert der „musica viva“ im Herkulessaal der Münchner Residenz zu erfahren. Auf dem Programm: keine komponierenden Jungstars, sondern zwei Gestandene --- Wolfgang Mitterer (Jahrgang 1958) und Mathias Spahlinger (Jahrgang 1944). Mitterer komponierte im Auftrag der „musica viva“ das Stück „crush 1–5“ für Orchester, Orgel und Elektronik. Spahlinger schrieb „ Lamento, Protokoll“ für Violoncello und großes Orchester. Beide Werke haben eine Spieldauer von etwa 45 bis 50 Minuten, was, rein zeitlich betrachtet, einem großen Orchesterstück gut ansteht. Mitterer benutzt den gewaltigen instrumentalen Apparat, um sein komponiertes Arsenal effektvoll auszubreiten. Die Elektronik fungiert als eine Art zweites Orchester, in deren Klang das reale Ensemble eingebettet wird, während die Orgel, vom Komponisten selbst mit bekanntem Furor traktiert, eine weitere Klangebene darstellt, wobei Mitterer sich improvisatorische Offenheit vorbehält – er möchte sich bei einer jeden weiteren Aufführung die Freiheit zur individuellen Ausformung vorbehalten.
Braucht Mitterer für das alles ein großes Orchester? Natürlich, ja! Er greift hinein ins volle Leben der komponierenden Moderne. Die fünf Abschnitte gehen fließend ineinander über, zwei schnelle Ecksätze umschließen in den drei mittleren Teilen „Seufzer“-Gesten, Warm-Einschmeichelndes und feine Klanglichkeiten. Es ist immer etwas los bei Mitterer, alle Musiker sind voll beschäftigt und das Publikum auch, weil es mit wachsender Begeisterung den schnell wechselnden musikalischen Eindrücken folgen kann. Der Titel „crush“ bedeutet auch „verknallen“ oder „zerquetschen“. Mitterer zerquetscht und zertrümmert hier die Noten im Komponiermörser und formt aus dem „Brei“ ein effektvolles, handfestes Stück Musik nach dem Prinzip: Erlaubt ist, was gefällt! Dem Publikum gefiel es.
Bei Spahlinger gab es dagegen einige hartnäckige Buh-Rufer. Kein Wunder. Sein „Lamento, Protokoll“ ist spröder, introvertierter, von der Gedanken Schwere belastet. Spahlingers Komponieren zwingt nicht nur zum genauen Zuhören, auch zum Hineinhören und Mitdenken. „Lamento“ und „Protokoll“ scheinen als Gegensätze zu sein. Aber Spahlinger, der nach sensiblen Trompetenklängen zu Beginn den Lamento-Charakter gleichsam „zitiert“, „protokolliert“ sozusagen im Folgenden das „Klage-Material“. Ein ständiges Fließen, Anhalten, Weiterfließen prägt die Binnenstruktur des Werkes, die im letzten Abschnitt durch ständige Generalpausen wie durchlöchert erscheint: als Kristallisierung des Flüssigen. Das darf man bei Spahlinger auch politisch verstehen. Auf die Verflüssigung politisch-gesellschaftlicher Strukturen folgt unabweislich die Verfestigung. Dieser ständiger Wechsel bindet in der Musik Spahlingers unentwegt enorme Innenspannungen aus. Der Vergleich mit den Spannungen in der Erdkruste wäre nicht ganz falsch. Die Linien, die das Cello (grandios Lucas Fels vom Arditti-Quartett) in das energiegeladene Spannungsfeld des Orchesters einspielt, wirken wie Signale einer Menschlichkeit, deren „Stimme“ sich im Strom von Zeit und Geschichte zu behaupten hat.
Dem BR-Orchester unter Peter Rundels überlegener Leitung war eine bannende, geistig gespannte Darstellung des schwierigen Werkes zu verdanken. Das Orchester sollte in den nächsten Jahren „Lamento, Protokoll“ immer wieder einmal ins Programm nehmen, damit die Musiker es nicht nur professionell spielen, sondern es sich darüber hinaus auch individuell zu eigen machen: das ist auch unsere Musik! Selbst das Ensemble Modern kennt, nach eigener Bekundung, diese längeren Phasen der inneren Aneigung einer schwierigen und anspruchsvollen Musik. Mit Technik allein ist das nicht zu bewirken. Nur mit Zeit.