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Idyllischer geht‘s nicht. Foto: Eleonora Pouwels Pure Photography

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Spannende Töne unter Pinien

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Das Molyvos Festival auf Lesbos feierte zehnjähriges Jubiläum
Vorspann / Teaser

Der Platz unter der Pinie ist schon belegt. Deshalb bittet Geschäftsführerin Lito Dakou die Badegäste, für ein kleines Strandkonzert beim Molyvos Festival, den sogenannten Molyvos Musical Moments, ihre Liegen ein paar Meter zur Seite zu schieben, damit Johannes Brahms’ Klarinettenquintett im Schatten gespielt werden kann. Dann zaubert Klarinettist Sebastian Manz, klanglich getragen von einem exquisiten Streichquartett, im ersten Satz geschmeidige Melodielinien, die aus dem Nichts kommen und zu blühen beginnen. Ein lautstarker Krakeeler zieht gleich wieder ab. Was der verwirrte alte Mann auf Griechisch gesagt hat, übersetzt Lito Dakou danach im Cafe. Seit 55 Jahren habe er nicht mehr so etwas Tolles in Molyvos gehört, sondern nur Müll. Solche Sachen müsste man mehr machen. 

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Seit neun Jahren machen die Klavier spielenden Schwestern Danae und Kiveli Dörken solche Sachen auf der drittgrößten griechischen Insel Lesbos. Ihre temperamentvolle Mutter Lito, die für die Musik nicht nur Badegäste charmant verscheucht, sondern auch jedes Jahr von Neuem Geldgeber akquiriert und die gesamte Festivalorganisation ehrenamtlich managt, stammt aus Molyvos. Die Töchter haben hier schon als Kinder ihre Sommer verbracht. Und möchten mit dem Festival, das 2024 zum zehnten Mal stattfand, die Liebe zu dem Ort mit der zur klassischen Musik verbinden. Neben den vier Hauptkonzerten gibt es immer Molyvos Musical Moments in der Altstadt, am Pool oder eben auch am Strand. Vier Opening Acts finden an archäologisch bedeutsamen Stätten der Insel statt – alles open air. Die internationalen Musikerinnen und Musiker kommen ein paar Tage vor Festivalstart auf die Insel und erarbeiten hier ambitionierte, dramaturgisch eng verklammerte Kammermusikprogramme. In diesem Jubiläumsjahr lautete das Motto „Freundschaft“. Das ist auch politisch gemeint – beim in Zusammenarbeit mit dem türkischen Ayvalik Music Festival auf der Burg von Sigri veranstalteten Konzert trafen Musik des griechischen Komponisten Iannis Xenakis auf die des Türken Ahmet Saygun und Kiveli und Danae Dörken (Klavier) auf die türkischen Musiker Orkun Pala (Violine) und Umut Saglam (Cello).

Sebastian Manz ist schon zum sechsten Mal beim Festival dabei. Die beiden Dörken-Schwestern hat der Soloklarinettist des SWR Symphonieorchesters auf dem Heimbacher „Spannungen“-Festival ihres Klavierlehrers Lars Vogt kennengelernt, das als Vorbild für das Molyvos-Festival diente. „Es tut uns Musikern sehr gut, wenn wir in Molyvos vom routinierten Musikbetrieb wegkommen. Hier ist nichts in Stein gemeißelt. Auch bei den Open-Air-Konzerten müssen wir reagieren auf starken Wind oder sonstige Nebengeräusche. Das erhöht die Spannung und Flexibilität.“ Manz erinnert sich auch an das allererste Festival im Sommer 2015, an dem viele Flüchtlinge, die von der Ortsbevölkerung erstversorgt wurden, die Insel erreichten. „Ihr Schicksal kann jeden von uns treffen. Ich fand es sehr schön, dass sie zu unseren Konzerten auf der Burg kamen. Anschließend hatten wir mit ihnen anregende, aber auch erschütternde Gespräche, die ich nicht vergessen werde.“ Am Fes­tival gefällt ihm die Nahbarkeit und das besondere Verhältnis der Musiker untereinander. „Wir alle unterstützen uns gegenseitig – künstlerisch und auf persönlicher Ebene“, sagt Manz, der mit seinen Arrangements von Jazzstandards mit Petrit Çeku (Gitarre) und Marco Behtash (Kontrabass) nicht nur den Sonnenuntergang im schicken Hotel Little Bird in Petra noch stimmungsvoller machte, sondern auch im zweiten Hauptkonzert mit seinen spektakulären Rossini-Koloraturen auf der Klarinette das Publikum elektrisierte. 

Da das Molyvos Festival voraussichtlich erst 2027 auf die Burg oberhalb der Stadt zurückkehren kann, fanden die vier Hauptkonzerte auch in diesem Jahr auf einem stillgelegten Tennisplatz inmitten eines Olivenhains statt, der farbintensiv illuminiert wurde. Beim Eröffnungskonzert „Phobia-Isolation“ taucht Tenor Simon Bode im selten zu hörenden Zyklus „On Wenlock Edge“ von Ralph Vaughan Williams tief in die Einsamkeit einer gescheiterten Freundschaft ein, das g-Moll-Klavierquartett von Johannes Brahms entfaltet eine große emotionale Bandbreite bis zum hinreißend musizierten Rondo all Zingarese. Dass die Musik auch bei starkem Wind ausgewogen und ohne Nebengeräusche über die Lautsprecher zum Publikum getragen wird, liegt an Kaspar Wollheim. Wie Sebastian Manz ist der seit einem Jahr pensionierte Berliner Toningenieur des RBB von Beginn an dabei. Er habe bei einem Konzert Danae Dörken kennengelernt, erzählt er beim Frühstück, und sei gleich begeistert gewesen von ihrer Festivalidee. Geld nimmt er für seine hochprofessionelle Beschallung keines. Auch den Versicherungsbetrag für die von der Firma Schoeps kostenlos zur Verfügung gestellten Highend-Mikrofone zahlt er selbst. „Ich liebe Musik und unterstütze gerne junge Musikerinnen und Musiker“, sagt Wollheim. 

Viel Idealismus ist also beim Fes­tival zu erleben, aber auch durchgehend höchstes Niveau. Die Berliner Vio­linprofessorin Antje Weithaas sorgt nicht nur für eine hochemotionale Deutung von Ernest Chaussons „Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett“, sondern begeistert auch als Primaria in Felix Mendelssohns erstem Streichquintett an der Seite von Noé Inui (Violine 2), Tomoko Akasaka, Karolina Errera (Viola) und der finnischen Cellistin Senja Rummukainen. Ein hochkarätiges Ensemble! Das von Rosanne Philippens angeführte Oktett von Max Bruch hat orchestrale Kraft. Die ehrenamtlich arbeitenden künstlerischen Leiterinnen Danae und Kiveli Dörken glänzen nicht nur als Klavierbegleiterinnen, sondern entfalten auch mit ihren so klugen wie lebendigen Moderationen auf Griechisch und Englisch Bühnenpräsenz. „Wir sind stolz, dass wir das Festival zum zehnten Mal ohne jede Pause veranstalten und wir es geschafft haben, klassische Musik in hoher Qualität auf Lesbos zu etablieren“, sagt Geschäftsführerin Lito Da­kou. „Was uns bisher leider nicht gelungen ist, ist eine langfristig gesicherte Finanzierung, die mir die Sorgen nimmt und mehr Gestaltungsspielraum eröffnet.“ Sie hofft, die beiden nächsten Jahre mit wachsenden Anforderungen und steigenden Kosten bis zum ersehnten Umzug auf die Burg überbrücken zu können. Dieser besondere Ort könnte dem Festival, bei dem bislang die teuerste Karte 30 Euro kostet, mehr Glanz verleihen, es für manche Sponsoren attraktiver machen und neues Publikum ansprechen. Das Abenteuer „Molyvos Festival“ geht weiter. 

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