Das Lucerne Festival hat ein neues Spitzenorchester. Neben dem Lucerne Festival Orchestra (LFO) agiert nun auch das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO). Es soll ein internationaler Leuchtturm in der Interpretation zeitgenössischer Musik werden. Ein erstes Gastspiel führte das LFCO bereits zum Musikfest Berlin. Jetzt mischt die Truppe auch in Donaueschingen mit. Doch wie war der Start am diesjährigen Lucerne Festival? Was steckt hinter dieser Initiative?
Wenn man mit Felix Heri über den Umbau an der Lucerne Festival Academy spricht, fallen Schlaglichter wie „Synergieeffekte“ oder „Bündelung von Kräften“. Seit 2020 leitet der Schweizer und frühere Geschäftsführer der Basel Sinfonietta die neue Contemporary-Schiene am Lucerne Festival. Mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) fiel jetzt im Luzerner Festival-Sommer der Startschuss für die jüngste Initiative: ein neues Spitzenorchester für zeitgenössische Musik.
Dahinter steckt zugleich eine umfassende Neuausrichtung am Lucerne Festival sowie an der 2003 von Pierre Boulez begründeten Lucerne Festival Academy. Neben Contemporary gliedert sich das ganze Festival ab sofort in Symphony und „Music for Future“. In der gegenwärtig von Wolfgang Rihm angeführten Lucerne Academy wurde bislang stets zweigleisig gefahren. Konkret gab es bislang ein Academy-Orchester mit aktuellen Teilnehmern und ein Alumni-Ensemble mit ehemaligen Akademisten. Mit dem Start des (LFCO) werden alle Klangkörper der Akademie vereint.
Jetzt wirken ehemalige und aktuelle Luzerner Akademisten in einem Orchester. Und da ist sie also, die Bündelung von Kräften: Sie eröffnet tatsächlich neue Perspektiven, wie die ersten Projekte des frisch gegründeten LFCO im Luzerner Sommer offenbarten. Ob die Schweiz-Premieren von „Nether“ der diesjährigen „composer-in-residence“ Rebecca Saunders mit der Sopranistin Juliet Fraser und „Post Torso“ des Ungarn Márton Illés, die Uraufführung der zwei Orchesterwerke von Alex Vaughan und Kirsten Milenko im Rahmen der „Roche Young Comissions“ oder das Finale des „Composer Seminar“ mit Rihm: Die Gestaltungsbreite der Interpretationen faszinierte genauso wie die ungeheure stilistische Vielfalt der Werke.
Allein die Auswahl der Dirigenten spiegelte überdies eine kluge Mischung der Generationen und Geschlechter wider. Da wurde eben nicht nur auf einen „Grandseigneur“ wie Heinz Holliger gesetzt, sondern vor allem auf junge Kräfte: darunter Johanna Malangré und Lin Liao. Beide sind selbst durch die Luzerner Akademie geprägt worden. Im ersten Jahr dieser Neuausrichtung war generell der Geist des Akademie-Gründers Boulez omnipräsent, besonders direkt im „Composer Seminar“ mit Rihm. Hier wurden die aus 250 Bewerbungen ausgewählten acht Komponisten mit „Initiale“ von Boulez für sieben Blechbläser konfrontiert.
Aus einem „Pool“ von sieben Blechbläsern sowie Schlagwerk, Celesta und Klavier konnten beliebige Besetzungen erprobt werden. Ein Ergebnis eint alle Lösungen: Offenbar haben die jungen Komponisten ein Problem mit der ins Vertikale strebenden Signalhaftigkeit, mit der Boulez in diesem 1987 komponierten und 2010 revidierten Werk das Blech behandelt. Man mag darin eine Distanz zur „idiomatischen Deutlichkeit“ des Blechklangs hören, wie es Co-Dozent Dieter Ammann formulierte. Was gewiss bleibt, ist eine Art Verflüssigung des Blechklanges – eine „Liquidierung“, wie es Rihm im Seminar nannte. Die Ausgestaltung dieser Prozesse differierte schier unerschöpflich, was die LFCO-Musiker geradezu exemplarisch hörbar machten. Da wagte Tyson Gholston Davis aus New York in „Canto II“ eine quasi-minimalistische Reduktion des Materials, um mit Theo Finkels „Tournesol“ einem größtmöglichen Kontrast ausgesetzt zu werden. Jedenfalls brechen in diese „Sonnenblume“ extreme, gegensätzliche Kräfte herein. Dagegen wagten Guillem Palomar und Arnau Brichs aus Barcelona eine fast schon musiktheatralisch wirkende Haptik. In den neuen Orchesterwerken von Vaughan und Milenko setzte sich diese überreiche schöpferische Diversität fort.
Beide stammen aus Australien und verfolgen in ihren Werken eine Art spirituelle Gegenständlichkeit. Während Vaughan als bekennender Christ in „Logos“ den Beginn des Johannes-Evangeliums instrumental reflektiert, verarbeitet Milenko in „Traho“ die verheerenden Buschbrände vor anderthalb Jahren in Australien. Aus dem Orchester heraus sind stellenweise Stimmen zu vernehmen, ohne jedoch den Text – hier ein Gedicht von Bea Redweik – direkt zu vertonen. Alle diese neuen Werke wurden von den LFCO-Musikern nicht nur ernst genommen, sondern mit größter Virtuosität im allerbesten Sinn durchdrungen.
Die eigentliche Feuerprobe bildeten indessen gerade auch solche Werke, die bereits uraufgeführt sind. Wie das junge Ensemble in Saunders’ „Nether“ mit Fraser sowie Malangré am Pult buchstäblich in den manisch sprechenden Mund der Molly Bloom aus dem „Ulysses“-Schlussmonolog von James Joyce führte, das war in dieser schonungslosen Konsequenz eine starke, originär eigene Sicht. Das galt auch für die „Turm-Musik“ und das „Ostinato funebre“ aus dem „Scardanelli-Zyklus“ von und mit Holliger nach Friedrich Hölderlin. Hier wurde Musik verlebendigt, als würde sie erst in dem Moment geboren.
Große, bleibende Momente wurden da in der ersten Hälfte des Lucerne Festivals generiert, was sich im weiteren Verlauf fortsetzte. Zu den Projekten des LFCO zählten in diesem Luzerner Sommer zudem eine „Conducting Masterclass“ mit Enno Poppe (statt des wegen eines familiären Todesfalls verhinderten Ilan Volkov) sowie die Aufführung der szenischen Komposition „Staatstheater“ von Mauricio Kagel am Luzerner Theater. Die Neuausrichtung berührt übrigens auch die vormaligen Oster- und Herbst-Reihen des Lucerne Festival. Erstere ist ab 2022 dem Lucerne Festival Orchestra vorbehalten, während das LFCO schon jetzt im Herbst mit der eigenen Reihe „Lucerne Festival Forward!“ startet – samt neuen, auch interagierenden Formaten. Luzern ist und bleibt ein spannendes Laboratorium der Zukunft.