Am dritten Adventswochenende hatte man die Wahl: Speculum oder Speculatius? Mutige Opernavantgarde oder doch lieber gemütliche Weihnachtsromantik – jedenfalls wenn man den Ankündigungen glauben durfte. Und die versprachen sehr vollmundig eine „interaktive Live XR-Oper“, also nicht nur szenisches Musiktheater, sondern auch noch live und in eXtended Reality.
Dazu erhielt das Publikum im Amphitheater des Bonner Kunstmuseums iPads, auf denen zeitweise interaktive Inhalte eingeblendet wurden. Hierdurch sollte man das musikalische Geschehen beeinflussen, doch das, soviel sei direkt verraten, funktionierte nur bedingt.
Der lateinische Titel des in Kooperation mit dem Theater Bonn realisierten und mit öffentlichen Mitteln geförderten Projektes geht auf den Mönch Vincent de Beauvais zurück, einen Benediktinermönch, Naturforscher und Gelehrter, der am Hofe Ludwigs IX. die systematische Erfassung der Natur und ihrer Entstehung betrieb, dem Abbild eines „Großen Spiegels“ gleich. Insgesamt drei Handbücher schrieb Vincent ab 1244, auf die nun die Komponistin Wen Liu und der Regisseur Martin Butler zurückgriffen. Für eine szenisch-dramaturgische Handlung taugt so ein Lehrbuch natürlich nur bedingt, denn eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht.
Als dramaturgischen Kniff gab es eine Mönchsgestalt (Maria Stamenković Herranz), die vor der Kulisse einer Bibliothek Texte aus dem Speculum rezitierte und dabei eine szenische Performance ausführte. Die Instrumente (zwei Geigen, zwei Celli) waren einander gegenüber links und rechts am oberen Rand des Amphitheaters positioniert, die vier Sänger saßen im Rücken des Publikums. Musikalisch zusammengehalten wurde der Abend von Pauli Jämsä, der das musikalische Geschehen mit seinem Dirigat koordinierte. Wen Liu hat eine komplexe Musik geschrieben, die sich stilistisch am Puls der Zeit bewegt und ihre Mittel ebenso konzentriert wie konsistent nutzt. Sie verlangt den Musikerinnen und Musikern jedenfalls einiges in punkto Spieltechnik und Präzision ab. Das lösten sie freilich nicht minder konzentriert ein, ebenso wie die vier Sänger aus dem Ensemble der Oper Bonn (Ingrid Bartz, Ava Gesell, Johannes Mertes und Mark Morouse), die ihre aus oft recht kryptischen Text- und Notenschnipseln bestehenden Partien mit in jeder Hinsicht großer professioneller Akkuratesse absolvierten.
Kann man das Stück nun vor diesem Hintergrund überhaupt als Oper bezeichnen – es gibt keine Handlung, keine dramaturgische Entwicklung, sondern nur einen Text, der (mit einem bedeutungsschwangeren Setting versehen) musikalisiert wird? Letztendlich wohl kaum, szenisch-musikalische Performance träfe es vermutlich besser. Live ist das Ganze natürlich, aber auch hinter das „interaktiv“ und die erweiterte Realität muss man ein dickes Fragezeichen setzen. Denn das, was das Publikum auf den Tablets machen konnte, erschöpfte sich im Arrangieren von Symbolen und dem Bewegen eines Protagonisten durch eine geheimnisvolle Schattenwelt. Inwieweit das nun konkrete Auswirkungen auf das musikalische Geschehen hatte, war zumindest subjektiv schlichtweg nicht nachvollziehbar, so wild man das Tablet auch malträtierte. Und so bleibt Speculum Maius zweifelsohne ein spannendes musikalisch-szenisches Experiment. Aber es ist weder eine Oper noch dürfte es nachhaltige Auswirkungen für deren Entwicklung haben. Das spiegelt im Übrigen auch die Umfrage, die auf der Instagram-Seite des Projektes zunächst zu finden, später aber wieder verschwunden war. Hier kam insbesondere das musikalisch-akustische Gesamterlebnis gut weg, während die interaktive Gestaltung von 0% der Befragten für gut befunden wurde.