Charles Gounods Oper „Faust“ lief in Deutschland lange unter dem Titel „Margarethe“, da dem deutschen Publikum das Libretto von Jules Paul Barbier und Michel Florentin Carré im Vergleich mit Goethes „Faust“ als vergleichsunwürdig erschien. In der Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin rückte Regisseur Philipp Stölzl durch Umstellungen und Striche aber doch die Gretchen-Handlung in der 1859 uraufgeführten Oper in den Vordergrund – im Originaltitel und in französischer Sprache.
Die Inszenierung, die der Intendant Dietmar Schwarz aus Basel mitgebracht hat, wo sie im Jahre 2008 Premiere hatte, erzählt die phantastisch romantisierte Handlung im Einheitsbühnenraum eines zentralen Wasserturms (Bühne: Philipp Stölzl und Heike Vollmer), in Pastelltönen und mit vielen Tableaux vivants, einerseits durch Kindermasken des Chores entrückt, andererseits aber heutig zugespitzt. So fährt Faust anfangs als schwerkranker Greis in einem selbst steuerbaren Hightech-Krankenmobil mit Schläuchen, Tropf und Elektrokardiogramm-Monitor, und seine Phiole ist eine Überdosis Tabletten. Fausts Sehnsucht nach der verlorenen Jugend zeigt sich in den spieluhrartig den Turm umkreisenden lebenden Bildern junger Mädchen auf dem Schulweg, mit Fahrrädern oder beim Picknick. Und in die Gestalt der Marguerite projiziert er in ihr Double, die Figur eines noch unmündigen Kindes. Sobald Faust durch Méphistophélès die Jugend im rosafarbenen Paillettenanzug wiedergeschenkt wurde, lässt er sich tätowieren, kifft er mit jungen Gören und vergnügt sich im Autoscooter.
Marguerite lebt im Krankenschwestern-Outfit (Kostüme: Ursula Kudma) in einem Miniwohnwagen und empfängt anstelle eines Kästchens eine ganze Ladung an Geschenkkartons, mit Diadem, Glitzerkleid und Zauberstern, der in den vorbeifahrenden Nadelbäumen bunte Lichter zum Flackern bringt. Anstelle Marguerites vergewaltigt Faust ihr kindliches Double.
Nach der Pause dreht sich Spieluhr des Lebens um den konstanten Turm in Gegenrichtung, und permanent fallen Schneeflocken. Die als eingefrorenes Bild vorbeikreisenden Mädchen machen eine Schneeballschlacht und das Marguerite-Double ist schwanger. Die triumphierend singenden Kriegsheimkehrer sind eine armselige Gruppe Verletzter, und viele wartende Partner bleiben einsam. Eine Faust und Méphistophélès umgebende Gruppe hibbeliger Gören in Pelzmänteln sticht mit Messern auf Gretchens aus der Schlacht heimgekehrten Bruder Valentin ein und stopft ihm einen Schwangerschaftsbauch. Statt des Dombesuchs betet Gretchen zu Orgelklängen neben dem toten Bruder. Das Double bettet das getötete Baby dazu. Die Walpurgisnacht macht der Regisseur zur Vision der Hochzeit von Faust und Marguerite, auf einer als „Wedding Chapel“ mit Leuchtschrift illuminierten Hochzeitstorte. Beim Walzertanz von Méphistophélès und Marguerite streuen die Brautjungfern Schnee. Pantomimisch wird Marguerite von einem vorbeikreisenden Richter verurteilt. Faust und Méphistophélès steigen über eine Mauer und sprengen die Gittertür des Gefängnisses, aber Marguerite will nicht fliehen. Sie wird von den Wärtern auf ein bereits während der Ouvertüre sichtbares Gewaltbett festgeschnallt und empfängt eine Todesspritze.
Ovationen setzten oft bereits nach den Arien ein, in der Tat waren überdurchschnittlich gute Gesangsleistungen zu erleben. Teodor Ilincai exerziert die Titelpartie technisch brillant und bereits als Greis mit markanten Tönen. Ildebrando D'Arcangelo bringt das Charisma seiner Bravourrolle des Don Giovanni mit ein in die Partie des Méphistophélès, Krassimira Stoyanova singt die Marguerite bei ihrem späten Berlin-Debüt glutvoll und mit tiefem Ausdruck. Die nachhaltigste Leistung liefert Markus Brück als Valentin. Stephanie Lauricella ist als Siebel ein liebreizender Osterhase mit Bauchladen, Carlton Ford komprimiert Brander und Wagner zu einer Figur, und Ronnita Miller ist eine hinreißend witzige Frau Marthe Schwerdtlein.
Zumeist unbeweglich singt der von Thomas Richter einstudierte Chor der Deutschen Oper Berlin die wirkungsvollen Chorsätze mit großer Intensität. Unter der musikalischen Leitung von Marco Armiliato wird Gounods Opéra lyrique mitreißend, manchmal etwas breit musiziert. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin ist in bester Verfassung. Vielleicht aber hätte ein französischer Dirigent das Esprit dieser Partitur noch deutlicher herauszuarbeiten vermocht.
Der vom 5- zum 4-Akter verknappte Abend brachte es doch auf dreieinviertel Stunden Spieldauer. Beim Ende nach 23 Uhr geizte das Publikum nicht mit Ovationen für den musikalischen Part der Aufführung und besaß auch noch Kraft, dem Regieteam um Philipp Stölzl und seine Co-Regisseurin Mara Kurotschka massive Buhrufe entgegenzuschleudern. Die Koproduktion mit dem Aalto-Musiktheater Essen wird auch in Berlin ihr Publikum finden.
- Weitere Aufführungen: 24., 27., 30. Juni, 2. und 5. Juli 2015.