Avantgarde muss keine Turnhallen füllen. Täte sie es, wäre sie keine Avantgarde. Aber es gibt Ausnahmen von dieser Regel. Bei den Donaueschinger Musiktagen und den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, die alle zwei Jahre stattfinden, den beiden renommiertesten deutschen Institutionen für zeitgenössische Musik, sind die Turnhallen sehr gut gefüllt, wenn zwischen klanglicher Schönheit in neuem Gewand und der Verweigerung von Gewohnheit fließend oder abrupt vermittelt wird. So auch beim Eröffnungskonzert der mittlerweile 43. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in der schmucklosen, aber sehr zweckdienlichen Sporthalle am Böllenfalltor.
Zu Beginn der vor 60 Jahren ins Leben gerufenen Ferienkurse spielte das Orchester basel sinfonietta unter der Leitung Johannes Kalitzkes sehr genau abgestuft Werke von Beat Furrer, Adriana Hölszky und Toshio Hosokawa. Sechzig Jahre Ferienkurse, ein Anlass zum Feiern? Eher ein Anlass, gemäß der Satzung nach vorne zu blicken. Und auf das Festivalprogramm: 40 Konzerte an 16 Tagen mit 25 Uraufführungen und renommierten Ensembles. Doch den geradezu jungbrunnenhaften Reiz des ehrwürdigen Festivals machen nicht nur die neuen Werke aus: Neben 250 jungen Teilnehmern aus 53 Ländern sind auch Interpreten und Komponisten in Darmstadt zu Gast, pilgern als fleißige Musikbienchen zwischen Kursen, Konzerten und Schlafstätten hin und her.
Heute, nach Serialismus, Postmoderne und inmitten einer drohenden Provinzialisierung zeitgenössischen Komponierens wegen manchmal allzu gefälliger Benutzung standardisierter Kompositions- und Aufführungssoftware, ist die Situation der Ferienkurse sicher nicht mehr so eindeutig historiographisch einzuengen. Die seit den siebziger Jahren alle zwei Jahre stattfindende Großveranstaltung hat Kursdirektor Solf Schaefer während seiner nunmehr elfjährigen Amtszeit mit sicherer Hand vom Kopf auf massive Beine gestellt, die des Darmstädter Lehrmobiliars.
Diesmal auf das der Mornewegschule, Ort der Unterweisungen, unweit der Orangerie, wo die meisten Konzerte stattfinden: Die Darmstädter Schule heute, das ist zunächst eine quirlige Sommeruniversität, wo man, also die Neue-Musik-Branche, sich auch trifft. Auch das eine Parallele zu Donaueschingen.
Dass die Kurse wieder mit Orchester zu tun haben, ist ebenfalls Schaefers Verdienst. Lange schon her, dass Hermann Scherchen hier Schönbergs „Tanz um das Goldene Kalb“ uraufführte. Seit Schaefers Amtsantritt und mehrfach erfolgreich unterstützt vom nahen Hessischen Rundfunk, dem Deutschlandfunk und dem Südwestrundfunk gibt es des Bürgers liebstes Instrument, das Orchester, auch wieder während der sommerlichen Orchesterferien. Die basel sinfonietta eröffnete mit Beat Furrers Kontrast im Ähnlichen abbildenden Komposition „Phaos“ für Orchester sehr eindrucksvoll mit gedeckten Klangfarben. Der Schweizer Komponist arbeitet mit kurzen, aneinandergereihten Zeitfenstern. Gehen sie auf, dann erklingen aus ihnen kurze Floskeln, die sich im tonschwankenden Gestus sämtlich ähneln, aber eben nicht gleich sind. Das Ohr wird hier auf Furrers nuancenhafte Veränderungsprozesse geeicht und nimmt danach jede kleinste Rotation, Spiegelung, Intensitätsabstufung genau wahr.
Überhaupt war der vom Typ her stillere Furrer einer der Stars der Ferienkurse. Helmut Lachenmann war der andere. Das nach viel zu langer Abstinenz endlich wieder in Darmstadt auftretende Ensemble Modern spielte Lachenmanns im letzten Jahr dem Ensemble auf den Klangkörper geschriebene „Concertini“ mit solcher Wucht und Raffinesse, auch in der kleinsten geräuschhaften Geste, dass man nur so mit den Ohren schlackern konnte ob derart großer haptischer Energie. Das Klangforum Wien indes interpretierte Beat Furrers kammermusikalische „Spur“ für Klavier und Streichquartett wie eine Endlosschleife, deren genaue Tonfolgen und Ereignisse bei neuerlichem Erklingen wieder vergessen waren, weil die Zeit verging. Auch hier intonatorisch die reinste Akupunktur für Gehörgänge. Ohnehin lag die Qualität dieser gut auch als Ensemblebörse durchgehenden Konzerte mit vielen europäischen Spitzenensembles, darunter das Ensemble Modern, das ArdittiQuartett, Trio accanto, Percussion Lugano oder das Ensemble Ascolta, weit über dem Durchschnitt. Das Ensemble Recherche etwa bestach durch glasklare Klangbilder erneut mit seiner wunderbaren Primgeigerin Melise Mellinger in Werken von Michael Reudenbach und Hans Thomalla, Kranichsteiner Musikpreisträger der letzten Kurse.
Schaefers Kurskorrekturen griffen aber noch weiter: Komponistenreferate im Stundentakt, wie noch bis zu seinem Amtsantritt als erst vierter Kursdirektor in sechzig Jahren üblich – zuvor: Gründer Wolfgang Steinicke, Pragmatiker Ernst Thomas und Ästhetiker alter Schule Friedrich Hommel, sind ausführlichen Kolloquien gewichen. Wer kommt, muss ganz dableiben. Noch nie, so war darum der Eindruck nach gut zwei Wochen philosophisch heiterer Ferienkurse, wurde so intensiv die Schulbank gedrückt wie heuer von den gut 270 Kursteilnehmern aus 53 Ländern. Fragen des Kontrapunkts, des Tonvorrats, der Konzeption, der Instrumentation und des Ausdrucks, der auch ein abstrakter sein kann, standen im Vordergrund. Fast schon zu musikimmanent ging es bei diesen nahezu John-Cage-freien Tagen zu. Allmorgendlich übervolle Einschreiblisten an den Klassenzimmern der Interpretations- und vor allem Kompositionsdozenten Adriana Hölszky, Mark André, Michael Reudenbach, Georges Aperghis, Toshio Hosokawa, Beat Furrer, Helmut Lachenmann und Dieter Mack waren die Regel. Kein Wunder bei solchen Kragenweiten. Mack, 1954 in Speyer geboren, war so etwas wie eine Entdeckung bei den Ferienkursen und passte nur zu gut zum wissenschaftlichen Teil der Kurse mit dem Titel „Interkulturalität“. Seitdem er in Indonesien die Musikausbildung reformierte und sein eigenes Musikdenken auch, lebt er ästhetisch und auch räumlich zwischen den Welten, pendelt ständig zwischen seiner Lübecker Professur und dem asiatischen Inselstaat. Mit der vom Ensemble Modern sehr einfühlsam intonierten „Kammermusik Nr. IV“, den Tsunami-Opfern gewidmet, wurde seine interkontinentale Verortung im Wechsel der konzertanten Idiome sehr anschaulich. Mit ihrem fortwährenden Ringen um zeitgemäße musikalische Formen gipfelten die Ferienkurse gewissermaßen im Konzert des in Darmstadt seinerzeit seine Karriere startenden ArdittiQuartetts, das zuvor die Tücken seines wertvollen Handgepäcks beim Hinflug aus London zu meistern hatte. Mit den drei epochalen und die Gattung jeweils neu definierenden Streichquartetten von Helmut Lachenmann in der überfüllten Orangerie wurde noch einmal deutlich, welche Horizonterweiterung mit dem Œuvre des Pastorensohns über uns gekommen ist. Im pfingstlichen, frenetischen Applaus nach gut zwei Stunden für das streckenweise am Rand des Hör- und Spielbaren musizierenden Quartett entlud sich die gesamte Konzentration der zweiwöchigen Ferienkurse und bestätigte, wie Wolfgang Rihm einmal meinte, dass traditionelle Musikorte, zu denen Darmstadt zweiffellos auch zählt, durchaus in die Luft gesprengt gehörten: durch Beifall. Sehr gut!