Seit vielen Jahren ist es in der Oper selbstverständlich und zu Recht unmöglich geworden, Sänger und Sängerinnnen an die Rampe zu stellen. In der neuen Inszenierung von „I Capuleti e I Montecchi“ von Vincenzo Bellini nutzt der Regisseur Michael Talke das jedoch in einer Szene als überzeugendes Stilmittel: Tebaldo, Romeo, Giulietta, deren Vater und ihre stumme Mutter, Lorenzo stehen in großem Abstand an der Rampe nebeneinander: das Bild markiert auf anrührende Weise die masslose Einsamkeit und Ausweglosigkeit aller.
In dem 1597 erschienenen Drama von William Shakespeare bleibt der Konflikt der beiden Familien eher im Hintergrund, man weiß nicht so genau, um was es da warum geht. Bei Bellini ist richtiger Krieg. Das schreit geradezu nach Aktualisierung (Israel, Ukraine), der Talke souverän widersteht. Die Inszenierung zeichnet vor allem dadurch aus, dass sie großartig auf die Musik hört, diese in einer Weise leben lässt, die ihre Sehnsucht jenseits der schrecklichen Wirklichkeit permanent nennt. Dazu hilft auch das Bühnenbild, das ein Paradiesbild von Jan Brueghel verarbeitet, das Julia in einer Verzweiflungssituation zerreißt (Bühne von Thilo Reuther). Die Kostüme markieren die Spannung zwischen Historie und heute: Julia in lila Pullover und Rock, Romeo in einem weiß-goldenen Anzug. Die Eltern in historischen Shakespeare-Kostümen und auch Julia sieht ihrer historischen Ahnin in deren Kostüm stumm zu (Kostüme von Agathe MacQueen). Nur ein gezeichneter Panzer fährt durch den Hintergrund. Da passt sogar noch Sinn zur Komik hinein: wenn Romeo den Koffen packt, um Julia mitzunehmen und Julia alles wieder zurückpackt, weil ihr der Mut fehlt, die Eltern zu verlassen. Das geht ein paarmal hin und her und zeigt auf einer ganz anderen Ebene die Absurdität der Situation. Im Libretto stirbt Julia, bei Talke packt sie diesen Koffer und geht mit einer Stärke, die mit dieser Welt nie mehr etwas zu tun haben will.
Immer wieder wird der italienischen Bel Canto-Oper recht pauschal unterstellt, es handle sich um sängerisch zwar höchst anspruchsvolle, aber ansonsten eher nicht so dolle Musik, verbunden auch mit schwachen Textbüchern. Von Bellini hat sich inzwischen „Norma“ auf den Spielplänen der Welt durchgesetzt. Aber der schon im Alter von 34 Jahren verstorbene Bellini hat noch viel mehr geschrieben, und dass da Großartiges zu entdecken ist, bewies jetzt die umjubelte Aufführung der 1830 uraufgeführten „lyrischen Tragödie“ in Hannover. (Übrigens unvorstellbar sind die damaligen Produktionsbedingungen: am 20. Januar 1830 begann Bellini mit der Komposition, am 11. März war die triumphale Uraufführung der „lyrischen Tragödie“).