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Still Alive – ein Reise mit Pearl Jam

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Die Grunge-Oldtimer Pearl Jam live in Berlin (23.9.06) & Wien (25.9.06)
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Die Vergangenheit meinte es nicht gut mit den europäischen Pearl-Jam-Fans. Manches Land musste sechs Jahre warten, bis Eddie Vedder, Stone Gossard, Mike McCready, Jeff Ament und Matt Cameron insbesondere wieder deutschsprachigen Boden betraten. Sicher. Etwas kauzig ist Pearl Jam geworden. Oder war es immer. Während Nirvana schnell im Kommerz versanken, ackerten Pearl Jam weiter an ihrer Attitüde: Interviews gibt es selten. Ein US- Konzertveranstalter wurde wegen zu hoher Eintrittspreise verklagt. Die Band verweigert seit ihrem Erfolgsvideo „Jeremy“ hartnäckig die Zusammenarbeit mit MTV. Zudem setzt man sich leise für diverse Hilfsorganisationen ein. Sogar die verbrauchten Energiekosten der letzten Tournee (Strom, Benzin, Wasser usw.) spendete die Band per Geldbetrag einer Umweltorganisation. Doch das durfte man nun für ein paar Stunden mal vergessen.
Berlin 23. September 2006 – Um 20.10 Uhr waren Pearl Jam endlich in Deutschland angekommen. Bestes Wetter Ende September, eine wunderbare Atmosphäre im Amphitheater des Open-Air-Geländes „Wuhlheide“. Die Vorband „ The Black Keys“ erwiesen sich als sympathische Zweimann- Combo: Gesang, Gitarre, Schlagzeug. Mehr Stress musste nicht sein. Als um zehn Minuten nach acht die Introtöne zum Pearl-Jam-Auftritt erklingen, entlädt sich die jahrelange Wartezeit in einem Urschrei. Unbeeindruckt betreten Pearl Jam lässig die Bühne. Winken schüchtern ins Publikum. Eddie Vedder stellt zufrieden seine obligatorische Weinflasche an den vorderen Bühnenrand. Matt Cameron zählt lakonische vier Drumstickschläge eine und „Go“, „Save You“, „Animal“, „Do The Evolution“ sowie „Rearviewmirror“ eröffnen schnell, hart und fast unbarmherzig ein Konzert, das viele Höhepunkte finden wird: Dazu gehören sicher Eddie Vedders Ansagen in Deutsch, die er zwar vom Zettel liest, die jedoch nicht ehrlicher hätten sein können. Oder der Song „Come Back“, der dem verstorbenen Joey Ramone gewidmet wird, einem guten Freund der Band. Dazu gehört die wohl eindringlichste Version von „Present Tense“, die man bisher hören durfte: Mike McCready begleitet zwei Drittel des Songs Eddie Vedder nur mit Gitarre; ein Gänsehauterlebnis. Dazu gehört das selten gespielte „Footsteps“, die Pearl-Jam-Hymne „Alive“, das hypnotische „Black“, dessen Refrain noch minutenlang von den Fans weitergesungen wird, oder das dramatische „Crazy Mary“, in dem Eddie Vedder getreu dem Songtext („Take a bottle drink it down. Pass it around“) seine Flasche selbstlos den Fans zur Verfügung stellt. All diese kleinen Höhepunkte wirken uninszeniert. Wo andere Bands „Dramaturgen“ beschäftigen, scheint bei Pearl Jam alles relativiert und unbehäbig zu funktionieren. Dementsprechend unspektakulär zeigt sich die Show. Diskretes Licht, keine Videowände, keine künstlichen Bühnenaufbauten, keine überflüssigen Ansagen. Nach 29 Songs werden die internationalen Berliner Besucher (Fahnen aus Schweden, Kroatien, Neuseeland, Finnland oder Tschechien werden geschwenkt) mit „Yellow Ledbetter“ nach Hause begleitet. Ein Open-Air-Konzert, das durch das Ambiente in Berlin zu einem Erlebnis wurde und das eine engagiert kämpfende Band präsentierte, die die schon über Jahre treuen Fans schätzt und liebt, dennoch das Konzert über weite Strecken in sicherer Distanz zu den Fans bestreitet.

Wien, 25. September 2006 – Dass die in Berlin unterstellte Distanz zum Publikum eine grobe Fehleinschätzung war, beweisen Pearl Jam zwei Tage später in Wien. Am 25.9.2006 eröffnen sie um 21.00 Uhr ein fulminantes Konzert, das in keinem Vergleich zum Berliner Auftritt steht. Entfesselt werden die ersten fünf Songs des Konzerts ohne Pause aneinandergereiht: „Life Wasted“, „Corduroy“, „Rearviewmirror“, „World Wide Suicide“, „Comatose“. Ein atemberaubendes Tempo. Eine Band, die agiert, als stünde sie in einem kleinen Club vor 300 Menschen. Man sucht den Kontakt zum Publikum und spielt ein komplett anderes Set als in Berlin. Schon beim Opener „Life Wasted“ brüllt die Menge die üppige Hallen-P.A. in Grund und Boden. Kultsongs wie „State of Love and Trust“, „Jeremy“ oder „Off He Goes“ werden ergänzt. Die Halle tobt, selbst auf den Tribünen stehen, springen, tanzen und jubeln Menschen. Die ersten „Crowd- Surfer“ werden über die Köpfe der Fans hinweg nach vorne gereicht. Immer wieder trifft sich die Band bei Schlagzeuger Matt Cameron, um Einheit zu demonstrieren und miteinander zu spielen. Eddie Vedder möchte seine Gitarre gar nicht mehr loswerden. Drischt wie in Trance auf die Saiten ein, um mit der ersten langsamen Nummer „Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town“ zum ersten Highlight zu kommen. Unterstützt vom 15.000er-Chor und den markanten Anfangszeilen „I seem to recognize your face“. Mit „Once“ vom ersten Album „Ten“, „Parachutes“ vom neuen Album, „Spin the Black Circle“ und den kaum verzichtbaren „Alive“, „Black“ oder „Daughter“ runden Pearl Jam ein wahnsinniges Konzert ab, das endet, wie es enden muss: Mike McCready greift zur Gitarre und spielt die ersten und letzten Töne von „Yellow Ledbetter“ an. Eindeutiges Zeichen, dass ein Ende naht. Man rückt näher zusammen in der Stadthalle, die eben noch Wohnzimmer war. Die von tanzenden Menschen gerissenen Lücken schließen sich zur Bühne hin. Letzte Handyfotos werden geschossen; der Hausmeister hat wie üblich und übereifrig das Hallenlicht schon aktiviert. Traurig verlässt man die Halle. Hofft, dass es nicht wieder sechs Jahre dauern wird, um Pearl Jam zu erleben. Während sich vor der Halle erste Grüppchen bilden, die schon diskutieren, ob sie der Band nach Kroatien oder Griechenland folgen, dröhnt aus der Kneipe gegenüber ein freudiges „Oh I, I, I’m still alive“. Wir haben verstanden. Die Karawane zieht weiter.

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