Der Roman „Der Herbst des Patriarchen“ von Gabriel García Márquez drängt sich nicht gerade als Vorlage fürs Musiktheater auf, denn diese Abrechnung mit dem lateinamerikanischen Diktatoren-Unwesen bietet keine Handlung mit sich entwickelnder Figuren-Konstellation; stattdessen einen perspektivisch wechselnden Bewußtseinsstrom ohne lineare Zeitebene: Leben und Tod des hier „Patriarch“ genannten Caudillo, Vergangenheit und Gegenwart des imaginären, aber ortbaren Landes sind von Anfang an als zeitloses, doch bildmächtiges Tableau präsent.
Aber das moderne Musiktheater hat sich längst vom mechanischen Handlungsdenken emanzipiert, wie ein Workshop mit verschiedenen Komponisten, Librettisten und Dramaturgen sowie Musikausschnitten als Begleitprogramm zu dieser Uraufführung bewies. So fanden der italienische Komponist Giorgio Battistelli (Jahrgang 1953) und sein Librettist Gotthart Kuppel eine geeignete Form, um dem Auftrag des Bremer Theaters nachzukommen. „Der Herbst des Patriarchen“ erfuhr eine szenisch wie musikalisch durchaus annehmbare Realisierung; spiegelt aber doch eine Problematik wider, die schon der Vorlage inhärent ist und in Battistellis Oper sogar noch verstärkt wurde.
Die unmittelbar ineinander übergehenden sechs Bilder zeigen stets den Präsidentenpalast jener imaginären „Bananenrepublik“, in dem der alternde, senile, aber immer noch lebens- und herrschsüchtige Diktator mal lebt, mal vegetiert und mal stirbt – um sogleich wieder aufzuerstehen. Im Bühnenbild von Carl Friedrich Oberle mit drei Ebenen, einer stilisierten Pracht-Architektur und einem durch das Oberlicht hereinscheinenden Urwald-Blättergewirr führen eine Konkubine (Birgit Eger) und ein Soldat (Mihai Zamfir) wiederkehrend die Zuschauer jeweils in die neue Szene ein.
Die Begegnungen des Patriarchen (Karsten Küsters stimmlich wie darstellerisch glänzend) mit seinem Double, mit Militärs, Huren, mit Botschafter, Erzbischof und schließlich dem Tod finden fast ausschließlich auf der mittleren Ebene statt (die vordere, die Rampe, wurde in Rosamund Gilmores ansonsten spannungsreicher Inszenierung ein wenig verschenkt), während daneben und oben ein quasi historischer Strom des Volkes ständig vorüberzieht, mal autoritätshörig, mal rebellierend; wie viel davon nur Traum und Erinnerung des sterbenden Patriarchen ist, bleibt absichtsvoll offen. In diesem surrealen Personenkarussell boten Loren Lang (Tod, Double) und Marco Lazzara (Berater Saenz de la Barra, Erzbischof, Offizier) in Sinn machenden Doppelrollen die überzeugenden Partner, die aus einem scheinbar unwandelbaren Zustand doch lebhafte Aktion schlugen.
Die im Roman schon ständig präsenten, den Palast mit bevölkernden und Gardinen wie Teppiche beknabbernden Kühe sind auch hier als Plastikmodelle auf der Bühne. Sie zeigen einerseits den Verfall der Herrschaft und die Schrulle des Milch verteilenden Patriarchen, andererseits symbolisieren sie die Herrschaftsbasis des Vieh züchtenden Großgrundbesitzes, ein Konglomerat aus Hacienda und McDonald, eine Assoziation, die hier allerdings verschenkt wurde.
Der Patriarch erscheint auftrumpfend, aber wiederum auch an seinem (vom Tonband her) „singenden“ Hodenbruch leidend, er hängt infantil an seiner Mutter Bendición Alvarado, deren Platz später die Geliebte Leticia Nazareno übernimmt (eine Doppelrolle für die in solchen Charakteren stets überzeugende Eva Gilhofer) – Freud’sche Inzestfantasien lassen grüßen... Er „menschelt“ erheblich in diesem Musiktheaterwerk, er tat es auch schon bei García Márquez, aber wo der noch den Drahtseilakt zwischen Entlarvung des Terrors und Ästhetisierung, zwischen realistischem Sittenbild und gefährlicher Nähe zur Verharmlosung schaffte, bleibt die Oper doch zu sehr in jenem Stadium haften, wo man sich fragt, warum wir eigentlich Verständnis haben sollen für die allzu menschlichen Charakterzüge eines Monsters, das sich in der Politik wie ein ungezogenes Kind beträgt, nur dass hier nicht Spielzeuge zertrümmert, sondern Menschen abgeschlachtet werden.
Battistelli postierte – neben dem Orchester im Graben – zwei Schlagzeug-Ensembles zu beiden Seiten der Bühne; eine weitere Raum-Ebene ergab sich durch Tonband-Einspielungen.
Das war dramaturgisch geschickt und schürte die Spannung, zumal die Musiker der Bremer Philharmoniker unter Stefan Klingeles souveränen dirigentischen Impulsen die Klangpalette der Partitur farbig ausreizten; doch blieb die Musik insgesamt recht konventionell. Der punktuelle Einsatz zu Beginn – wie die Exposition einer Zwölftonreihe –, der am Ende wiederholt wird, um das Ganze fast akademisch abzurunden, die gelegentlich am Kitsch entlangschrappende Melodik, ein schicksalsdräuendes Zitat aus Johannes Brahms‘ Erster Sinfonie – das sind Momente, die, zusätzlich zur Szenerie, aus dem Politgangster einen fast schon wieder sympathischen Opernhelden machen. Ob das im Sinne des Romanciers war, darf mindestens gefragt werden; ob im Sinne der auf Argentiniens Müllkippen „Verschwundenen“ oder in Chiles Stadion Niedergemetzelten, ist entschieden zu verneinen.