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Stimmen und Szenen

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Stuttgarts Neue-Musik-Festival „Éclat“
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Neben dem Traditionsfestival der Neuen Musik in Donaueschingen und den Tagen der neuen Kammermusik in Witten hat sich in den letzten Jahren vor allem das Festival Neue Musik in Stuttgart als wichtige Stätte der Avantgarde positioniert, besonders seit es sich mit dem Titel „Éclat“ ein griffiges und mehrdeutiges Reizwort als Markenzeichen zugelegt hat. Auch dies- mal präsentierte Stuttgart zahlreiche Uraufführungen, dazu Szenisches und das inzwischen zum Konzept gehörende Musiktheater für Kinder, zu denen man bei „Éclat“ auch gern die Achtzigjährigen rechnet. Übrigens: zum endgültig letztenmal fand das Festival im Theaterhaus im Stadtteil Wangen statt. Der nächste „Éclat“ ereignet sich im neuen Theaterhaus auf dem Pragsattel.

Willst Du Schau, geh‘ ins Lichtspiel. Der aphoristische Rat stammt aus der Frühzeit des Kinos. Heute könnte man abwandelnd formulieren: Besuch ein Festival mit so genannter „Neuer Musik“. Wohin man sich auch wendet, ob nach Donaueschingen, Witten oder nach Straßburgs „Musica“, überall gibt es nicht nur zu hören, sondern auch und immer mehr zu sehen: Video, Installationen, Performances, Szenisches, Raumarrangements für Konzertantes: Ohr und Auge sollen gleichermaßen beschäftigt werden. Dabei müsste gerade ein Musikfestival eigentlich doch darauf bedacht sein, im Zeitalter optischer Überflutungen wieder stärker zum Hören zu erziehen, zum Zu-Hören-Können. Luigi Nono hat schließlich seinen „Prometeo“ als „Tragödie des Hörens“ bezeichnet, und Luciano Berios „König“ wird vor allem als ein „Horchender“ dargestellt.

Andererseits wächst beim Publikum anscheinend mehr und mehr das Interesse an Grenz- und Genreüberschreitungen, an synästhetischen Erfahrungen. Das sind im Grunde alte Geschichten und Sehnsüchte: Wie blau-silbern klingt das „Lohengrin“-Vorspiel, wie herbstbraun der „Tannhäuser“? In der Oper fanden und finden die ästhetischen Ausdrucksmittel zur idealen Einheit zusammen, und so mögen auch die „Macher“ Neuer-Musik-Festivals insgeheim oder offen von einer Wiedervereinigung der Künste träumen: Neue Klänge, Bilder, Aktionen – zusammengeführt im idealen Kunst-Raum zur Einheit mit den erlebnisbereiten Menschen und deren Träumen. Von solcher Universalität „träumt“ auch das Festival Neuer Musik Stuttgart, das sich vor einigen Jahren als griffiges Signet den Zusatztitel „Éclat“ zulegte. Das Wort besitzt im französischen Original verschiedene Bedeutungen, wir setzen es vorwiegend mit einem Skandal in Verbindung – in Stuttgart ist es jedoch bisher nicht zu einem solchen gekommen, eher zu einem bemerkenswert gesteigerten Interesse des Publikums, das die Angebote überwiegend freundlich, ja herzlich akklamiert. Das war auch diesmal beim „Éclat“-Jahrgang 2003 der Fall. Hans-Peter Jahn, künstlerisch verantwortlicher Leiter des Festivals, hat im Laufe der Jahre eine bemerkenswert weitgespannte Programmstruktur entwickelt, in der sogar ein Musiktheater für Kinder seinen festen Platz einnimmt. Dabei war er diesmal gezwungen, das schon fertige Gesamtprogramm erheblich zu verkleinern, nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil das neue große Theaterhaus auf dem Pragsattel immer noch nicht spielfertig ist, so dass man noch einmal in die intimere, anheimelnd-improvisatorisch wirkende Atmosphäre des Theaterhauses im Stadtteil Wangen einkehren musste.

Dreizehn Veranstaltungen an vier Tagen, mit zwanzig Werken, davon dreizehn Uraufführungen: ein breites Panorama musikalischer und musiktheatralischer Gegenwart öffnete sich. Das Musiktheater für Kinder, das traditionell den „Éclat“-Auftakt bildet, sichert sich pädagogisch ab: Es wird kurzerhand als auch für Erwachsene geeignet erklärt, also für alle Altersstufen zwischen acht und achtzig Jahren.

Das zwingt zu einer offenen Dramaturgie, die jedem den individuellen Zugang gestattet – wie bei der „Zauberflöte“: Papageno für die Kinder, Sarastro für die Großen. Der Schauspieler Maarten Güppertz aus Holland, der sich mit Hans-Peter Jahn den „Mann, der sich selbst verschenkte“ (so der Titel) ausdachte, benötigt außer sich selbst noch eine weibliche Mitspielerin, die zugleich des Klavierspielens mächtig ist, einen Flügel, einen Sandhaufen, eine rote Clownnase, ein paar Kostümteile – das ist schon fast alles. Maarten Güppertz, der „Mann“ schreitet seinen Lebensweg ab, eine ein wenig sentimentale Reise durch die Natur, ihr ewiges stirb und werde.

Er begegnet Tieren, die er possierlich nachahmt, er trifft auf die Liebe einer Frau (Claudia Fröschle), die ihm ganz wunderbar Helmut Lachenmanns „Ein Kinderspiel für Klavier“ vorträgt, er lässt sich symbolhaft den Sand zwischen den Fingern herabgleiten: Die Zeit seines Lebens verrinnt. Güppertz zaubert Poetisches, Tiefsinniges, bunte Clownerien auf die Bühne und manchmal auch ziemlich Derbes, das den leichten Gestus des Werkes, seine schwebende Musikalität arg stört. Vielleicht sollte man doch einen nicht-mitspielenden Regisseur für die jeweilige Inszenierung engagieren.

Hoch ambitioniert und trotz eines Regisseurs (Hans-Jürgen Kapp) zu additiv-umständlich inszeniert, präsentierten sich die Neuen Vokalsolisten Stuttgart in einem „Stimme & Szene“-Projekt, für das Kapp und Ernst Poettgen das Konzept entwarfen und Jan Kopp, Paolo Perezzani, Vadim Karassikow, Wilhelm Killmeyer und Kaija Saariaho die zum Teil äußerst anspruchsvollen Kompositionen beisteuerten – bis zum leicht prätentiös wirkenden minutenlangen „Verschweigen“ der Musik in Karassikows Cage-nahen Beiträgen: Auch eine „Verschweigung“ könnte in Korrespondenz mit einer „Szene“ formale Stringenz gewinnen. Den bemerkenswerten Spielfertigkeiten der stimm-lich überragenden Neuen Vokalsolisten ließen sich sicher dramaturgisch komplexere und auch perfektere Darstellungen abgewinnen.

Zum Nur-Hören erzogen wurde man dann in den anderen Konzerten, denen das Ensemble Varianti, das SWR Vokalensemble, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (Leitung Dominique My) und das Klangforum Wien den hohen Interpretationsstandard sicherten. Was wäre besonders hervorzuheben? Sicher Alvaro Carlevaros Komposition für Orchester und Candombe-Trommler, die sich in das immer dichtere Klang-Rhythmus-Akkord-Geflecht des Orchestersatzes „einmischen“, ohne ihre Individualität aufzugeben, was schließlich zu ihrem Abgang führt: Im Dialog zweier Kulturen bewahrt sich jede ihre Autonomie, aber: man hat zumindest ein Stück des Weges gemeinsam musiziert und sich kennen gelernt: Ein Stück Musik mit Botschaft also.

Caspar Johannes Walters Komposition „Lebenslinie“ für Geige, Cello und Orchester überzeugte durch höchst differenziert eingesetzte Glissando-Elemente sowie eine komplizierte Tonhöhen-Strukturierung, die dem Klang etwas bewusst Unbestimmtes, Vages verleiht. Im Preisträgerkonzert des Stuttgarter Kompositionswettbewerbs von 2001 stellten sich Sebastian Stier (Jahrgang 1970) mit „Double“ für 22 Spieler und Wieland Hoban (1978 in London) mit „Hedone“ für fünf Streicher vor, wobei sich Stiers energischer, plastisch kontrastierender Komponiergestus nachdrücklicher darzustellen vermochte. Im Klangforum-Konzert überzeugte vor allem Klas Torstenssons „Latern Lectures“ für 15 Streicher mit Einschüben für drei Blechbläser durch rhythmische Energie und farbige Klanggestaltung. Uwe Raschs „sprich: naiky“ für acht Instrumente könnte man als aparte Studie über Schattenklänge klassifizieren.

Marco Stroppa stellte in Stuttgart sein erweitertes „Cantilena“-Projekt für dreifach geteilten gemischten Chor auf Texte unter anderem von Rosselli, Jandl und Enzensberger vor: Die leicht weihevolle Aura wird glücklicherweise durch produzierte Geräusche und gesprochenen Text (bei Enzensberger) Distanz-schaffend unterbrochen. Bei einem Avantgarde-Festival 2003 darf auch das „Crossover“-Experiment nicht fehlen. Was die vierköpfige HipHop-Band Nonkonform und das Ensemble der Autoren „Strom“ mit Unterstützung flimmernder Werbefilme allerdings anzubieten hatten, gelangte über das Gutgemeinte wohl kaum hinaus.

Dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Michael Gielen blieb es vorbehalten, mit zwei schon bekannten Werken den markanten Schlussstein des „Éclat“-Festivals zu setzen: Georg Lopez‘ „Landscape with Martyrdom“ und Helmut Lachenmanns „Nun“ für Flöte, Posaune, Männerstimmen und Orchester erfuhren Interpretationen von hoher intellektueller und musikalischer Durchdringung, die auch ästhetische Widersprüche aktuellen Komponierens speziell bei Lachenmann reflektierte.

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