Die Musik macht Freude und das Genderfluide gerät zum Megatrend wie in allen anderen Sparten auch. An der Musikalischen Komödie Leipzig zeigt Andreas Gergen, dass die Unterschiede zwischen der Stummfilm-Hochphase vor 100 Jahren und der heutigen Kameramanie in den sozialen Netzwerken äußerst gering sind. Trotzdem steckt seine Inszenierung von Jean Gilberts Operette „Die Kinokönigin“ tief im letzten Jahrhundert. Aber sie ist – dirigiert von Stefan Klingele – ein flotter Fund aus der Berliner Operette des frühen 20. Jahrhunderts.
Zwischen den Zirkusprinzessinen, Csardasfürstinnen und anderen Operettenadeligen dürfte Jean Gilberts „Kinokönigin“ eigentlich nicht fehlen. Delia Gill, die Titelfigur, wurde in der Urfassung anno 1912/13 noch als „Elfte Muse“ bezeichnet – eine Hommage an die neue Kunst des Kinos. Trotz einer zusätzlichen Ladung von Texten und Musik durch Julius Freund, darunter das berühmte „In der Nacht“, und trotz der Neufassung durch Jean Gilberts Sohn Robert mit Per Schwenzen Anfang der 1960-er wurde „Die Kinokönigin“ in der Nachkriegszeit und in der Operetten-Renaissance des 21. Jahrhunderts noch nicht so richtig heimisch. Das sollte sich schleunigst ändern.
Die beiden Vorstellungen in der Musikalischen Komödie Leipzig am Premieren-Wochenende schlugen voll ein und widerlegten falsche Operettenführer-Klischees. Auch wenn Gilbert, durch die späteren Erweiterungen verstärkt, sein Lieblingsthema der feudal-bürgerlichen Doppelmoral nach der bis in die 1980er gern gegebenen „Die keusche Susanne“ weiterspann, ist „Die Kinokönigin“ weit mehr als ein mit grobkörnigen Gassenhauern gewürzter Schwank. Das Stück quillt über von witziger bis äußerst guter Musik, die Situationen haben Biss und Schmiss, das Timing saß. Natürlich muss man die Akustik der Musikalischen Komödie so gut im Griff haben wie Stefan Klingele, der die Berliner Musike nicht plärren ließ. Mit dem Orchester der Musikalischen Komödie bringt Klingele die vielen Duette, Lieder und größeren Ensembles stattdessen kernig zum Gleißen und Swingen.
Für viele im MuKo-Ensemble war eine wirkungsvolle Rolle dabei. Mit Erstaunen stellt man fest, dass für „Die Kinokönigin“ sogar zwei erste Sängerinnen gebraucht werden, welche die MuKo natürlich problemlos aufbietet: Nora Lentner gibt Annie – die Kulturminister-Tochter erlebt durch Liebesnöte wegen des nicht näher bestimmbaren Junkers Edelhardt von Edelhorst (Betörer-Charme total: Vikrant Subramanian) in 48 Stunden mehr als in ihrem ganzen jungen Leben bisher. Und dazu die Kinokönigin (Mirjam Neururer auf dem Weg vom lyrischen Sopran zur Revueoperetten-Assoluta). Einerseits ist Delia ihrem Hofschauspieler Viktor Mathusius treu – Jeffery Krueger macht auch mit der Konkurrenz-Dame im feststeckenden Aufzug alles richtig. Aber Delia weiß auch, wie man einen wilhelminischen Kulturminister mit Sinn für‘s Ideale (wunderbar: Milko Milev mit Monokel), seine Gattin (für die Handlungszeit fast unstatthaft freimütig: Anne-Kathrin Fischer) und ein ganzes Filmset in Schach hält. Dazu gibt es einen engagierten, aber wenig textverständlichen Chor und Zusatzchor (Leitung: Mathias Drechsler) sowie ein federnd eiliges Ballett (Choreographie: Mirko Mahr). Demzufolge ist fast alles wie immer – könnte man meinen beim Anblick der von Stephan Prattes für das Bühnenbild genutzten fahrbaren Treppen und Aleksandra Kicas verschwenderischen Kostümen mit Prunk und Pailletten.
Stolz ist das Produktionsteam auf das Video-Set, mit dem aus den fast provozierend leeren Studioszenen die Drehs simultan auf eine Leinwand gezaubert, mit Dokumentarfilmen aus der Zille-Zeit und Schwarzweiß-Hintergründen versehen und schön alt gemacht werden. Die Dialoge geraten trefflich bis sentimental. Doch ausgerechnet da schwächelt die Dialogregie, wenn die pikante Begegnung des „kulturellen Kommandeurs von Preußen und der Afterkünstlerin“ dreidimensional und physisch abspult, aber wie ein Film sein und überdrehen sollte (Video: Jens Gelbhaar). Da kommt heiße (Bühnen-)Luft, während die Asta-Nielsen-Gesten von Mirjam Neururer durch Ironie gut geraten, nämlich minimal lasziv und für alle Altersgruppen wohl bekömmlich. Filmstreifen umrahmen die Bühne – manchmal verfließen die Ebenen von Film, behaupteter Zeit und Echtzeit. In Gang kommt die Sache übrigens, wenn die Kinokönigin zu Beginn mit täuschender Intensität eine Suffragette (Nackt unter Pelzen!) spielt und jemand in der Zeit, als der Stummfilm noch als primitiv galt, vom Ton- und Farbfilm fantasiert. Die bekannten Komödienzutaten – Verkleidung, Verwechslung, Verzweiflung, Verlobung – haben kräftiges Tempo. Mathias Schlung, Andreas Rainer und Uwe Kronberg bereichern das Ensemble mit Schnauze und humoriger Treffsicherheit.
Andreas Gergen hat sich den Geist des Hauses bei den während Corona mehrfach in Angriff genommenen Vorbereitungen vorbildlich zu eigen gemacht. Er ist der Mann fürs trendig Genderfluide. Das macht die Sache für die Ankleidedienste hinter der Bühne in Zukunft vielleicht einfacher. Zur Introduktion gab es für Frauen- und Männerchor nur Fräcke und Fliegen, im letzten Finale entsprechend für alle nur lange Kleider in Gold. Ein bisschen Ironie in Form von lila Licht ist sogar dabei, wenn das Ballett in schwarzen Strapsen und Spitzenwäsche eine große Nummer bringt. Eine Berliner Operette ist allerdings keine „Rocky Horror Show!“. Deshalb reagierte das Publikum weder mit Raunen noch Räuspern oder Schmunzeln. Die Solisten und alle Mitwirkenden wurden am Ende laut und herzlich gefeiert.