Handglockenchor, ökumenische Gottesdienste und öffentlicher Glockenguss – das Programm der Europäischen Glockentage 2004 in Karlsruhe war bunt und vielfältig und umfasste Ausstellungen, Vorträge und viel interessante Musik vom Gambenconsort bis zu multimedialen Glockenimpressionen.
Ein Stipendium winkte dem Gewinner des internationalen Kompositionswettbewerbes, den das Institut für Musik und Akustik des ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) aus Anlass der Glockentage ausgeschrieben hatte. 21 Komponisten beteiligten sich und letztlich wurden drei Stipendien statt einem vergeben. Als Grundlage der jeweils circa 20-minütigen Werke sollten die klanglichen Eigenschaften von Kirchenglocken und deren elektronische Manipulation dienen. Die drei Stipendiaten haben bereits zahlreiche Preise eingeheimst. Der aus Argentinien stammende Komponist Mario Verandi studierte Musik und Informatik und erwarb 2001 seinen Doktortitel im Fach Komposition an der University of Birmingham. Er gewann den Wettbewerb mit „Bellscape“ einem „akusmatischen“ Zwei-Kanal-Stück, aufgeteilt auf 14 Lautsprecher, einer Reise durch eine sich ständig verändernde Klanglandschaft. Verandi hat sich vor allem mit dem unharmonischen Frequenzspektrum von Glocken und ihren Charakteristika beim Verklingen beschäftigt. Entstanden ist ein Diskurs zwischen realen und computergenerierten Glockenklängen. Durch Überlagerungen gibt es wabernde Halleffekte, oder leichte Tonhöhenschwankungen, die an die Glasharmonika erinnern. Carillonmelodien im Quintraum sind zu hören, Glocken, die mit Ruten oder Besen angeschlagen werden, dazu Klöppeldiminuendo, Becken, elektronisches Blubbern und Geräusche wie Tröpfeln auf ein Xylophon. Ohrenfutter mit viel Abwechslung, eine akustische Reise doch ohne Struktur im engeren Sinne, aber die hatte der Komponist ja auch gar nicht beabsichtigt.
Andre Bartezki erhielt sein Tonmeisterdiplom an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ und hat regelmäßig Lehraufträge zu Themen elektroakustischer Musik. Ihn reizten an Glocken die polyrhythmischen und Phasen- Verschiebungen. „Einklang“ für acht Lautsprecher und multiples Video (auf elf Monitoren) beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass der Mensch versucht einen eindeutigen Schlagton „zurechtzuhören“ und aus den verschiedenen Pendelschlägen eines Geläutes einen übergeordneten Rhythmus zu erfassen. Ausgangspunkt ist der Klang eines einzelnen hohen Schlags eines kleinen koreanischen Glöckchens in Bienenstockform; die große Version wird mit einem Baumstamm angeschlagen. Bei den Miniexemplaren sind keine Obertöne mehr wahrnehmbar. Mit diesen hellen, silbrigen Klängen hat Bartezki Tonaufnahmen aus einer Glockengießerei kombiniert. Auch die Videos stammen von dort. Eine vertikale Streifenblende verdeckt zunächst den Großteil; peu à peu nimmt die Breite des Streifens zu, bis das komplette Bild zu sehen ist. Teils sind es untypische Bilder von Wasserhähnen und Kabeln, teils typische von glühendem Erz, prasselndem Feuer oder einer fertigen Glocke mit der Inschrift „Höret, so wird eure Seele leben“. Die Bilder werden in der Horizontale gevierteilt und die Streifen gegeneinander verschoben. Zuweilen korrespondieren Bild und Ton, wie beim Prasseln. Dann werden die Arbeitsgeräusche neu geordnet: periodisches Donnern entsteht – das Glockengießergewitter, eine andere Struk-tur, aber kein „Einklang“.
Frank Niehusmann hat ein Philosophiestudium absolviert und arbeitet als freischaffender Komponist vorwiegend mit Computern. Sein Live-elektronisches Konzert für vier Lautsprecher trägt den Titel „Was da los ist“. Ihn interessiert der „soziale Kontext“, da Glocken auch als Alarm- und Signaltöne dienen. Die Form bezeichnet Niehusmann als „Zitat“, denn er steht mit einem Midi-Keyboard auf der Bühne – wie im guten alten Konzertsaal. Er arbeitet mit Samples von Kirchen- und Kuhglocken, lautem Muhen und einem deftigen Schmatz-Beat, Gongs, megaphonverstärkter Sprache oder Krankenwagensirenen. Bei seiner Live-Performance ergibt sich ein rhythmisch dichtes Geflecht aus Siebensekundenloops, bei dem der aufmerksame Zuhörer ständig mit der Frage beschäftigt ist „Was da los ist“. So war es gedacht.
Die prämierten Werke sind hörenswerte Auseinandersetzungen mit dem Thema Glocken, Gratwanderungen zwischen Spielereien und Kompositionen.