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ABSCHLUSSBALL: Felix Strobel; Foto: Hans Jörg Michel
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Stuhl-Gänge mit Lucia Ronchetti – Uraufführung von Achim Freyers „Abschlussball

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„Noch 304 Tage“ verkündet das Monatsplakat des Berliner Ensembles im Verweis auf „die letzte Spielzeit von Claus Peymann & Co“. Die begann mit einer Uraufführung aus der Feder jenes Künstlers, der an diesem Haus zahlreiche ungewöhnliche Ausstattungen geschaffen und mit einer Reihe eigener Inszenierungen für Diskussionsstoff gesorgt hatte. Der von Achim Freyer selbst verfasste „Abschlussball“ schafft Assoziationen zu einem langjährigen Kultstück im Schauspiel Weimar, welches das Ende der DDR überdauert hatte und den Alltag in einem Ballsaal zum Thema hatte, im Kreisen der tanzenden – oder wie Freyer es nennt „feiernden“ – Darstellerinnen an Pina Bauschs Tanztheater.

In zwölf Stationen, inmitten von LED-Schlagworten, Spiegeln und einem Videoscreen mit farbverfremdeten Projektionen (mal der dirigierende, bekanntlich kapitalistisch geschickte Richard Strauss, mal eine wippende Kuh) sowie den für Freyers Ästhetik symptomatischen, in den Größenverhältnissen ihrer Körperteile skurril verfremdeten Rollenträgern mit Schwellenköpfen und gigantischen Geschlechtsorganen, 16 Darstellerinnen vom Kleinwüchsigen bis zum Riesen, die auf der Drehbühne am Publikum vorbeiziehen, erzählt der Autor-Regisseur-Ausstatter seine Kapitalismus-Kritik. Bereits beim Einlass zeigt er das Theater als Amüsierstätte, mit kinetischen Spiegeln und farbwechselnd illuminierten Logenlampen. Dazu hantiert ein Weißclown an einem über die obere Proszeniumsloge hängenden Spieltisch mit magnetischen Zahlen und Symbolen. Collagen von Sprachfetzen formen sich bei jenen Besuchern, die diese wiedererkennen, im Kopf zu einem Ganzen. Sie nehmen vorzugsweise Bezug auf Autoren, die hier auf der Bühne viel und gern gespielt wurden, wie Samuel Beckett („scheitern, immer wieder scheitern, immer besser scheitern!“), Bert Brecht und Heiner Müller („Engel der Geschichte“) das Märchen aus Büchners „Woyzeck“, Goethe, Kleist, Hebbel, Peter Handke, Franz Kafka, Sophokles, Euripides und Homer, Ludwig Wittgenstein, Kaffka, Lasker-Schüler, – aber auch Wagner, dessen kapitalismuskritischen „Ring des Nibelungen“ Freyer ebenfalls wiederholt inszeniert hat, sowie die Offenbarung des Heiligen Johannes.

Spiralförmige Stuhl-Gänge, dazwischen eine verspätete Begrüßungsansprache eines Darstellers mit kunstvoll ausgelassenen Silben – so, als würde die Übertragungstechnik nicht funktionieren. Doch die hat Alles im Griff, übermannt die Gesellschaft mit Zahlen, fragwürdigen Wertvorstellungen, wie Fleisch-Zubereitungen als Delikatesse, während verkohlte Fleischbrocken sich von der Scheibe heben, womit Freyer sein jüngstes Kölner Environment „…und Rauch stieg auf“ zitiert.

Zwei Mädchen (Emilia Nietiedt und Lotta Rosa Hegenscheidt) deklamieren possierlich parallel Texte ins Mikro, initiieren immer wieder: „Das Spiel beginnt!“. Und langsam erst merkt der Betrachter, dass damit nicht das Theaterspiel, sondern das Experiment mit der gesamten Menschheit gemeint ist.

Begonnen hatte das Lamento mit einem Rondo und dann über die Stationen Verdichtung, Prozession, Spiegelung, Tanz, Stühle, Verführung, Zweikampf, Kinder und Tragödie direkt ins Inferno geführt. Beim Zweikampf des Oedipus verwandelt sich der erschlagene Vater unter dem antiken Helden sogleich in die von ihm begattete Mutter. Das Purgatorio, die Reinigung, lässt die Personalunion von Autor und Deuter nur erahnen, denn die letzte Szene findet auf verdunkelter Bühne statt, bis ein komplettes Black-Out dem Geschehen ein Ende setzt.

Für die Musik dieser Uraufführung zeichnet die italienische Komponistin Lucia Ronchetti verantwortlich, deren erste Oper „Esame di mezzanotte“ Freyer im Vorjahr in Mannheim uraufgeführt hat. Auch beim „Abschlussball“ wartet sie mit allerlei Allusionen an bekannte Werke auf, von Cavalieri über Mozart bis zu Strauss, dessen Schlussmonolog der „Salome“ die Sopranistin Esther Lee-Freyer a cappella kurz anreißt. Medeas verzweifelten Mord an den eigenen Kindern gestaltet Ronchetti als Melodram, schafft bei „Ödipus“ mit chorischem Skandieren Assoziationen an den Choros des attischen Theaters und bei den Texten aus der Apokalypse liturgische Klänge. Wohl nur scheinbar vertraut klingt der rondoartig wiederkehrende Tanz-Schlager aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Die Darsteller, vom Autor mit witzigen Namen, wie etwa Die Wortreiche (Manuela Gutsmann), Die Wehklagende (Ursula Höpfner-Tabori), Der Unheimliche (Peter Luppa), Der Vergebliche (Uli Pleßmann), Der Eintänzer (Hugo Reiß), Die Unbändige (Celina Rongen), Der Hoffnungsvolle (Norbert Stöß), Der reine Tor (Felix Strobel), Der Träumer (Fabian Stromberger) und Der Berauschte (Jörg Thieme) benannt, bilden ein homogenes Ensemble, an dessen Choreographie die vor einigen Dezennien mit eigenen choreografischen Arbeiten hervorgetretene Arila Siegert mitgearbeitet hat.

Nach 90 Minuten, die von meinem Sitznachbarn bis kurz vor Ende permanent herzlich belacht wurden, die Besucher hinter mir jedoch lautstark als „vergeudete Lebenszeit“ einstuften, gab es – wie Brecht es fordert – im Publikum den Widerspruch der Meinungen, mit Bravo- und Buhrufen.

  • Weitere Aufführungen: 16. 9., 1., 2., 22. und 23. 10. 2016.

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