„ Sinngebungen. Spiritualität und Geistigkeit in Neuer Musik“ war der Titel und Ausgangspunkt der 61. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt (11. bis 14. April). Es gab Vorträge von Wissenschaftlern und Komponisten, Workshops für Groß und Klein, eine stadtweite Konzertinstallation und immerhin fünf weitere Konzerte. Nach einführenden und den Themenumfang definierenden Beiträgen galt es, der Spiritualität in Neuer Musik mit Blick auf den asiatischen, arabischen, amerikanischen und europäischen Kulturraum nachzugehen. In der Tradition der letzten zwei Jahre wurde mit Klaus Huber wieder ein Komponist eingeladen und dessen Schaffen reflektiert. Eine solche Fokussierung, die Verbindung theoretischer und pragmatischer Vorträge und die programmatisch auf die Tagung abgestimmten Konzerte waren ein gelungenes Konzept – und dennoch: Erst in der Sektion der Popularmusik wurde der wissenschaftliche Kuschelkurs mit extremen Positionen durchbrochen und eine belebte Diskussion entfacht.
Die Eröffnungsrede von Hans Zender war ein geistreicher Einstieg in die Frage, was unter spiritueller Musik überhaupt zu verstehen sei. Er zeichnete sie als einen Prototyp geistlicher Musik aus, jedoch mit dem Unterschied, dass sie unabhängig von den Funktionen sakraler und kultischer Dienste sei. Allerdings könnten weder sakrale Funktionen noch religiöse Texte automatisch spirituelle Musik entstehen lassen. Es sei heute sogar so, dass sakrale Funktion und spirituelle Wirkung nur noch in Ausnahmefällen in Neuer Musik zusammenkämen. Ist aber eine sakrale Musik ohne spirituelle Wirkung nicht gänzlich sinnlos?
Die Bedingungen für sakrale und spirituelle Musik sind für Zender von widersprüchlichen Bedingungen geprägt: Während sich ein Gottesbezug in sakraler Musik teleologisch gerichtet, in einem begrifflichen Denken manifestiere, sei spirituelle Kunst immer von einer kontemplativen Ruhe, einer Entleerung vom Geist der Symbolik geprägt. Spirituelle Musik sei eine geistige Präsenz ohne konkrete Gedanken und Gefühle. Als Gegenpol zum verbreiteten zielorientierten Leistungsdenken sei sie ein geeigneter „Übungsweg“, um sich von äußeren Zwängen zu befreien (und hat darin ihr pragmatisch-kritisches Potenzial).
Insbesondere in Bezug auf schaffens-psychologische Aspekte der Künstler untersuchte Helga de la Motte-Haber die Frage der Sinngebungen in Musik in einem geschichtlichen Rückblick. Seit Beginn der Aufklärung, so de la Motte-Haber, wollten Künstler sich selbst die Regeln geben, wodurch die vorherigen Funktionen in der Instrumentalmusik wegfielen. Dieses Vakuum habe man dann versucht, durch sinnstiftende Außenhalte zu füllen. Zunächst sei dies vor allem der subjektive Ausdruck als Objektivierung eigener Gefühle gewesen, sowie die Verwendung von Texten, Programmen und Titeln. Außenhalte hätten aber auch unmittelbar religiöse Bezüge, naturreligiöse Vorstellungen, Zahlenmystik und der Wahrnehmungsvorgang geboten. Gegenwärtig beobachtet sie insbesondere einen „roll back“ zurück zur Ausdrucks-
ä sthetik und den Versuch, die (Musik-)Geschichte selbst zum sinnstiftenden Außenhalt zu machen.
Leider enthielt sich de la Motte-Haber einer Bewertung dieses „roll-backs“, denn es wäre ein geeignetes Thema gewesen, um mit Klaus Huber über seine Musik zu diskutieren. u Schließlich ist seine Musik voll von geschichtlichen Bezügen, sei es zur Stimmung Vicentinos, zur Musik Gesualdos oder zu arabischen Musiktheoretikern des Mittelalters. Gerade die Beschäftigung mit letzteren hat seit den 1990er Jahren über utopische und spekulative Aspekte hinaus zu einer Erneuerung der Klanglichkeit von Hubers Musik geführt, wie Kjell Keller zeigen konnte. Den Komponisten beschäftigte in den 1970er und 80er Jahren immer wieder die Befreiungstheologie, welche Max Nyffeler als inkonsistent erklärte und damit für Diskussionsstoff mit Huber sorgte. Während der Marxismus auf innerweltliche Dinge ziele, so Nyffeler, sei die Verheißung von Christus auf eine außerweltliche Erlösung gerichtet. Bei allem sozialen Engagement habe Jesus nicht die Veränderung der weltlichen Ordnung gepredigt. Daher gehe beides nicht zusammen.
Entgegen dem unterhaltsam witzigen Überblick eigener geistlicher Werke von Dieter Schnebel, war der Vortrag von Mark André für manchen Tagungsbesucher selbst ein Mysterium. Hatte de la Motte-Haber vielleicht mit ihrer Bemerkung Recht, André habe anhand fremder Werke eigentlich über sein eigenes Trio ... ALS ... (2001) gesprochen? Dieses noch am gleichen Abend aufgeführte Stück war auf alle Fälle ein Highlight innerhalb der beiden Konzerte des Ensemble Modern. Die abends zu hörenden Stücke der zahlreichen Komponisten waren in Verbindung mit den Vorträgen oftmals erhellend. Angesichts des gesellschaftlich gestiegenen Rechtfertigungsdrucks für Neue Musik scheint die Suche nach einem Sinn in der Musik größer denn je. Beim Hören zahlreicher Stücke zeigte sich dann aber auch, dass die einkomponierte Spiritualität nur den Hörer erreichen kann, wenn die Musik diesen auch versteht zu berühren, d.h. weder gleichgültig noch aufdringlich an ihn herantritt. Als Schnebel einmal gefragt wurde, wie geistliche Musik sein müsse, antwortete dieser: „Sie muss gut sein!“ So unrecht hatte er da wohl nicht.