Da weiß der Freistaat Sachsen-Anhalt offenbar noch immer nicht so genau, was für ein unschätzbar wichtiges, nicht-materielles Luxusgut er mit dem Impuls-Festival für Neue Musik beherbergt. Das unter Leitung von Hans Rotman poly-zyklisch agierende Netzwerk mit den vielen Austragungsorten, zu denen am 6. November sogar ein Sonderkonzert mit Impuls-Auftragskompositionen in Brüssel gehört, kooperiert trotz des durch die Förderbedingungen extrem knappen Planungszeitraums erfolgreich mit den Subventionsorchestern in Halle, Magdeburg, Dessau, Wernigerode und Quedlinburg. Ein ganz wichtiger Akzent sind überdies die internationalen Spitzenbesetzungen der Meisterklassen, Workshops und Konzerte mit zwölf Uraufführungen im Festivaljahr 2018.
Vielfalt und Eintracht zusammen: Der Weg dorthin ist mindestens so wichtig wie das Konzert-Ziel „Super Tuesday“, für welches das Steintor-Variéte in Halle die akustisch splendide, räumlich feine und erfreulich gut besuchte Location bietet (das Festival schafft ca. 40% Eigeneinnahmen). Die fünf Akteure aus der Masterclass Komposition von Annette Schlünz arbeiteten im Bauhaus Dessau, in der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig und hatten im Leipziger Neue-Musik-Ensemble Tempus Konnex ein mit Impulsen freigiebiges Expertenteam an ihrer Seite. Die Dirigentin Nodoka Okisawa gewann erst kürzlich beim Tokyo International Music Competition for Conducting den 1. Preis. Nicht zu vergessen: Salome Kammer gab den fünf jungen Komponisten vor Beginn der gemeinsamen Arbeit eine Einführung dazu, was sich mit der menschlichen Stimme zwischen Geräusch und Gesang an Sinnvollem und Artifiziellem anstellen lässt. Diese Uraufführung „Breaking News“ wurde also weder „L‘Art pour l‘Art“ im Elfenbeinturm noch sentimentales Betroffenheitsevent, sondern ein thematisch, affektiv und dramatisch ausbalanciertes Konzerttheater. Mauricio Kagel hätte seine Freude daran gehabt, Hans Werner Henze auch, Mark-Anthony Turnage erst recht.
Autorin Astrid Vehstedt baute auf der Impuls-Produktion „Spiel im Sand“ an der Oper Halle (2017) auf und schuf für die Masterclass-Teilnehmer Apolline Jesupret (Belgien), Beste Öçelebi (Türkei), Cya Bazzaz (Deutschland), Junyu Guo (China) und Loïc Le Roux (Frankreich) mit Texten aus der von der Journalistin Birgit Svensson initiierten Gedicht-Anthologie „Mit den Augen von Inana“ einen musikdramatischen Überbau zu den fünf Kompositionen: Poesie reflektiert die Gefühle, Ängste und die im Trommelfeuer der Informationsmengen verschwindenden Hintergründe zu den kriegerischen Gräueltaten im Irak.
Work in Progress
Work in Progress: Bei zwei von den Hörern mit konzentrierter Aufmerksamkeit beobachteten Schülerkonzerten im Bauhaus Dessau vier Tage vor „Super Tuesday!“ gab es Musik und Texte schon mit theatralen Akzenten, aber noch ohne Video. Bei den Schlussproben für diese emotionale Musik-Dokumentation (was für ein Potenzial hat dieses junge Genre!) experimentierte man mit Sascha Kummers umfangreichen Videoprojektionen, in denen Salome Kammer als „Anchorwoman“ in die Rollen einer militaristischen Aggressorin und einer Reporterin im Krisengebiet schlüpft. Man könnte denken: Redundanz der Mittel? Aber für den Beobachter der Probenprogression bestätigt sich das Gegenteil. Die Koinzidenz der visuellen, monologisierenden, musikalischen Bausteine und Überblendungen ist stärker als das Einzelmoment.
Wie gelingt das mit dieser anscheinend zwangsläufigen Leichtigkeit? Zum ersten gewährte das Impuls-Festival trotz knapper Frist am Ort des Abschlusskonzertes der Masterclass Komposition (17. bis 30. Oktober) eine Proben- und gedankliche Vorbereitungszeit von idealer Länge auch für Reflexionsphasen dazwischen. Zudem kommt ein Ensemble zusammen, bei den kein Teilnehmer mit seinen künstlerischen Parametern dominiert oder dominieren will. Als Heldin der zeitgenössischen Wortoper hat sich Salome Kammer eh nie betrachtet und schlägt deshalb das naheliegende Angebot für die Vakanz der primadonnenhaften Führungskraft aus. Erst beim zweiten Durchlauf fällt auf, dass hier keine Avatare einer monarchischen kompositorischen Monokultur ihre verabsolutierende Selbstlegitimierung feiern, sondern dass fünf künstlerische Individuen Schritte ermöglichen, an Fortschritten der anderen partizipieren und dabei ihre Ausdrucksmittel multiplizieren. Der Super-Bonus an dieser Zusammenarbeit bei „Breaking News“ ist dadurch eine kreative Geschmeidigkeit, die Sujets, Themen und Inhalte stützt. Ein vom Diktat künstlerischer Normdaten freier Zyklus von fünf musikalischen Einzelstücken, die zu Sätzen eines Hyper-Opus werden, gewinnt bemerkenswerte Homogenität, Geschlossenheit und eine fast gleichwertige musikalische Überzeugungskraft. Diese wurde natürlich dadurch ermöglicht, dass die Teilnehmer der Masterclass nicht von Bewerbern ausgewählt, sondern vom kreativen Leitungsteam des Impuls-Festivals gezielt angefragt wurden. In der fein proportionierten Beanspruchung von Geist, Emotion und der zugänglichen, vielfältigen, dabei aber keineswegs simplifizierenden Haltung der jungen Komponistinnen und Komponisten war dieser „Tuesday“ echt Super.
Kulinarik- und Kraftfutter-Appeal
Die beiden anderen Werke des Abends bestätigen das mit einem Kulinarik- und Kraftfutter-Appeal, was der Neuen Musik gleichfalls gut ansteht. Der Dirigent Armando Merino und der Klarinettist Miguel Pérez Inesta machen mit der Kammerakademie Halle „Gnarly Bottoms“ von John Adams zum koloristisch-flächig-satten Vergnügen und im roten Licht des Steintor-Varietés hat die Uraufführung der Impuls-Auftragskomposition „Lost City“ von Gene Pritsker (geb. 1971) eine fast schon unlauter sichere Erfolgsgarantie: Vier Perkussionisten aus drei Impuls-Partnerorchestern (Magdeburgische Philharmonie, Staatskapelle Halle, MDR-Sinfonieorchester) trommeln, trampeln und stürzen sich auch mit vokalem Großeinsatz auf Passagen aus Friedrich Schillers Texte über den dreißigjährigen Krieg und die Zerstörung Magdeburgs 1621. Der New Yorker Komponist aus Russland dreht also, vollauf legitimiert durch den Text eines deutschen Klassikers, die Perspektive einfach um und zeigt einen Punkt der Geschichte, an dem aus echten Deutschen reale Flüchtlinge wurden. Ohne Wenn und Aber! Die Perkussion-Klänge wachsen auf zur Gewalt- und Klangvision von riesigen Mauern, die den Weg zur Rettung abschneiden. Was wäre, wenn...