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Opernfestspiele Heidenheim 2024 ALZIRA. Marian Pop, Sung Kyu Park, Chor. © Oliver Vogel.

Opernfestspiele Heidenheim 2024 ALZIRA. Marian Pop, Sung Kyu Park, Chor. © Oliver Vogel.

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Supersieg gegen das Verdi-Klischee: „Alzira“ bei den Opernfestspielen Heidenheim

Vorspann / Teaser

Ganz selten ist Giuseppe Verdis achte und trotz beträchtlicher Höhepunktsdichte vergleichsweise unbekannte Oper „Alzira“ auf den Bühnen und auf Tonträgern nicht (mehr). Und natürlich gehört das als nicht so gute Leistung Verdis geltende Opus in den Zyklus früher Verdi-Opern bei OH!, also den Opernfestspielen Heidenheim. Dort warf man Puccinis „Madama Butterfly“ und Verdis 1845 im fortschrittlichen neapolitanischen Opernhaus San Carlo uraufgeführte ‚tragedia lirica‘ zum Motto „Fremde Welten“ zusammen. Nach „Alzira“ jauchzten das Publikum so enthusiasmiert wie im Vorjahr bei der ähnlich erfolgsspröden „Giovanna d’Arco“ und jubelte sich ins Delirium. Auf musikalischer Seite bestens begründbar. Das Festival auf der Sonnenseite im Schatten von Burg Hellenstein geht dieses Jahr bis 28. Juli. 

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Andreas Baesler gelang in der vom Librettisten Salvadore Cammarano gründlich eingedampften, von philosophischen Ideen freigespülten und auf den Konflikt zweier politischer Gegner um die gleiche Alpha-Frau gebrennspiegelten Tragödie „Alzire, ou Les Américains“ (1736) von Voltaire eine gediegene Szenen- und Raumlösung. Politische und private Problemzonen erfuhren eine verständliche Wiedergabe – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass diese 90-Minuten-Oper in Peru spielte, sah man an der in langer Linie hinter Chor und Soli gesetzten Mais-Kultur. Tanja Hofmann machte aus geringem Kostüm-Etat eine Tugend. Abwechselnd nutzte sie spanische Hoftracht-Halskrausen und Pickelhauben versus Bast-Accessoires und gewebte Stoffe für die Szenen mit der peruanischen Urbevölkerung. Offenbar mischen im ersten Finale sich einige Widerständlerinnen unter die spanischen Festgäste. Der Tschechische Philharmonische Chor Brünn weitet unter der inspirierenden Einstudierung von Joel Hána das Liebesdreieck zum Chorepos à la „Nabucco“. Wie in diesem ist in „Alzira“ der Chor eine Hauptpartie. Das prachtvolle Kollektiv aus Brünn setzt sich dementsprechend in sängerisch beste Position. 

Unter der Bürde der Herrschaft seufzen die Väter in den Spitzenfunktionen der spanischen Invasoren und der Inka-Elite: Alvaro (Marcell Bakonyi) contra Ataliba (Gabriel Fortunas). Ein Großteil der Konfliktakkumulation – Verweis auf das gegenüber der stilvollen Festspiel-Location gelegene Naturtheater aus dem Jahr 1919 für die Heidenheimer Volksschauspiele – spielen auf einem Podest. Darauf klagt Sung Kyu Park als Inkahäuptling Zamoro mit unerschöpflicher tenoraler Kraft und Stentortönen, wie Liebe doch die militärische Stoßkraft beeinträchtigt. Da erliegt auch der Spanier Gusmano dem Todesstich der peruanischen Widerständigen. Edelbesetzung auf Nebengleis ist Julia Rutigliano als Prinzessinnen-Begleiterin Zuma. Lukas Siebert (Ovando) und Musa Nkuna (Otumbo) sind stimmpotente Stichwortgeber aus den Militäreinheiten. 

Elegien im Salzbad

Das Ereignis im Heidenheimer Verdi-Zyklus sind einmal mehr die Cappella Aquileia und Marcus Bosch. Sie vollbringen vor allem im ersten Teil eine mit allen Spaghettiopernklischees brechende Glanzleistung. Synkopen sind nicht mehr Mittel des Effekts, sondern Teil einer originären Instrumentationsstrategie. Bosch hinterfragt alle anderen von Fein- und Grobdirigaten zelebrierten Verdi-Reizmittel, führt sie zurück in den großen Entwicklungsstrang des italienischen Melodramma seit Rossini und macht dabei doch das bahnbrechend Andere des jungen Verdi deutlich. Unakademisch, unprätenziös und gerade deshalb in einer überlegten Verbindung von Innovation und natürlichen Impulsen. Verdis Orchester wird noch allzu oft als Rhythmus-Combo unter Kraftgesang verstanden. Die Cappella Aquileia macht daraus Elegien im Salzbad. Fulminant bis in die zahlreichen Flötenfioruturen, mit denen Verdi hier Tänze auf dem Vulkan kreiert und Stimmen garniert. Unter denen ragt Marian Pop als Gusmano mit gutturaler Tiefe und fast tenoral timbrierter Höhe heraus. Er singt das weniger mit rauer Kraft als mit kerniger Balance. Und die bis kurz vor der Premiere erkrankte Ania Jeruc in der Titelpartie fuhr zur Bestform hoch, überraschte durch angedunkelte Expression, topsicher attackierte Spitzentöne und Tränen an den richtigen Nervenpunkten im Edelmaterial. Vor allem sie, Pop und Rutigliano hielten mit bei Boschs ambitionierter Verdi-Deutung und nahmen Genauigkeit wichtiger als physische Überspannung. Im zweiten Teil verlor sich dieser Flow der delikaten Detailrecherche minimal, was allerdings an Verdis Zuspitzungsdramatik lag und weniger am üppig demonstrierten Gestaltungswillen. Kenner verließen die Vorstellung mit der Erkenntnis, dass „Alzira“ doch um einiges besser ist als ihr nicht allzu guter Ruf, zumindest im Congress Centrum Heidenheim. Und das regionale Publikum zeigte einmal mehr, dass es der Leitung der Festspiele vertraut und deren Expeditionen durch das Dickicht des Verdi-Dschungels mit blindem Vertrauen folgt.

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