Der Name allein ist so respekteinflößend, dass sich nur wenige an die Aufführung seiner großen Werke heran trauen: Die Rede ist von Karlheinz Stockhausen, dessen Kompositionskunst auf alle Sockel gehoben wurde, dessen Werke fantasievoll die Befreiung der Musik aus möglichst viel „irdischen“ Festlegungen vorantreiben wollten. Der Anspruch, Zeit- und Raumbegriffe zu erweitern durchzieht sich wie ein roter Faden durch Stockhausens Schaffensbiografie. Also war es vorprogrammiert, den 2007 verstorbenen Großmeister der musikalischen Avantgarde ins Zentrum des Essener NOW-Festivals zu rücken, dass sich in diesem Jahr unter dem Motto „sound surround“ vor allem dem Aspekt von Raum widmet.
Zum dritten Mal steigt nun dieses maßgeblich auf Initiative des Netzwerkes Neue Musik ins Leben gerufene Festival im Ruhrgebiet – die Zusammenarbeit zwischen der Essener Philharmonie, der Folkwang-Hochschule und dem Landesmusikrat NRW macht es möglich. Das zeigt in diesem Jahr einmal mehr, welches Potenzial frei wird, wenn man Kräfte bündelt: Da gibt es hochkarätige Ensembles auf der Höhe ihrer Zeit, unermüdlich forschende Gegenwartskomponisten und eine schier unerschöpfliche Historie in Sachen musikalischer Moderne. Hinzu kommen spektakuläre Räumlichkeiten und nicht zuletzt ein begeisterungsfähiges Publikum.
Also lebt am vielbeachteten Auftakt-Abend in der ausverkauften Bochumer Jahrhunderthalle eine beispiellose Vernetzung von drei Orchestern. So will es Stockhausen in seiner Komposition „Gruppen“, die gewissermaßen die Idee des Orchesters an sich vervielfachen möchte und mit drei gleichen, aber autonomen Spielgruppen die Tradition eines „frontalen“ Musikerlebnisses aufbricht.
Die drei instrumentalen „Gruppen“ sind von ihrer Besetzung her bis ins letzte Detail identisch, werden von drei sich per Monitoren koordinierenden Dirigenten geleitet (an den Pulten Johannes Kalitzke, Lucas Vis und Manuel Nawri) und spielen streng seriell komponiertes Material, das immer wieder musikalische Spurenelemente von Webern und Berg durchschimmern lässt. Und nicht nur der Raum, sondern auch die vierte Dimension der Zeit wird in kühner Komplexität und mit verblüffenden Wirkungen hinterfragt. Damit die Zuhörer alle klangsinnliche Vielfalt erfahren können, wird das zwanzigminütige Werk gleich zweimal gespielt – Plätze wechseln zwischen den Durchgängen ist ausdrücklich erwünscht! Denn auch der eigene Standpunkt ist beim Erleben von Musik doch eine relative Größe.
Eine schier überirdische Koordination zwischen den drei Gruppen eröffnet die Perspektive auf ein weites klingendes Firmament. Man hätte denken können, die Jahrhunderthalle wäre eigens für dieses Projekt gebaut worden! Filigrane Streicherfiguren verwehen wie Sternenstaub im weiten Raum, Impulse blitzen auf und werden gespiegelt, wütend trumpfen dunkle und schwere Klangballungen auf. Es durchschneiden Trommelwirbel den Raum und leuchten majestätische Glockenschläge des Schlagwerks. Man ist nicht länger distanzierter Zuhörer, sondern mittendrin. Die Berührungen, Querverbindungen und Reaktionen der Klänge miteinander sind dabei kein Zufall, sondern mathematisch genau berechnet. Stockhausen dachte in der Organisation dieser drei Klangkörper die Kontrapunktlehre weiter – wo sich allerdings nicht mehr melodische Linien, sondern unmittelbare Klangereignisse und Mikrostrukturen gegenüberstehen – und sich hier im weiten Raum begegnen.
Und aus so etwas schöpfen die hier so intensiv vereinigten Ensembles Musikfabrik NRW, Bochumer Sinfoniker und Essener Philharmoniker auch noch eine geballte Ladung impulsives Spieltemperament bis hin zur ekstatischen Raserei während der Schlusspassage.
„Quasar“ von Günter Steinke lehnt sich an Stockhausens „Gruppen“ an – auch hier geht es um ein extrem erweitertes Raumkonzept. Für die Uraufführung dieser Komposition waren sogar zum Auftakt des Abends ganze Musikergruppen mitten in den Zuschauerraum hinein platziert worden. Aber das neuentstandene Werk kann Stockhausens Pioniertat aus dem Jahr 1955-57 nicht wirklich das Wasser reichen. Vielleicht braucht das neue Stück auch noch etwas Verfeinerung, denn das Prinzip, aus atomisierten Einzelereignissen eine sich immer extremer verdichtende Gesamtheit zu formen, ist als Grundidee vielversprechend. Doch blieb in der Jahrhunderthalle der Eindruck von zu viel aufgetürmtem Klang-Geschehen, von zu viel hektischer Überladenheit und zu wenig Dramaturgie. Vielleicht „wächst“ die Komposition ja noch durch weitere Aufführungen.
Ein weiteres Pionierwerk für die elektronische Musik, nämlich Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ rundete in der Essener Philharmonie das Eröffnungswochenende bereichernd ab. Ebenso wie mehrchörige Raumkompositionen der venezianischen Schule in einer Essener Kirche und einem Konzert zum Thema „Hybride Musik für Mensch und Maschine“ – das der Frage nachging, ob man überhaupt Menschen als Ausführende braucht. Genauso ambitioniert und vielschichtig geht es bis zum 17.11. an verschiedenen Aufführungsstätten weiter. In der Folkwang Universität rückt ein Konzert der Tonerzeugung mit dem „Ondes martenot“ zu Leibe. Matthew Herbert, ein DJ und experimenteller Elektronik-Musiker will Schnittstellen zwischen Neuer Musik und Clubkultur ausloten. Diesem Anspruch huldigt auch der Berliner Stefan Goldmann, der seine übliche Wirkungsstätte, das Berliner Berghain mit dem ehemaligen Salzlager der Kokerei Zollverein tauscht. Dort will wenig später auch Brian Enos „Music for Airports“ den ambienten Klangraum ausfüllen. Das Chorforum Essen lässt am 15.11. Ligetis „Lux Aeterna“ leuchten. Und das Finale bringt am 17.11. im Museum Folkwang mit einer Hommage an Iannis Xenakis einen weiteren Giganten in Sachen musikalischer Erneuerung ins Spiel.