Große Interpretationen können erdrückend sein – so etwa Federico Fellinis Film „La Strada“ von 1954: die kaum erträgliche Misere von Jahrmarktartisten, Anthony Quinn als emotional verkümmerter Kettenbrecher und erst recht das sprachlose Leid im Blick des armen Mädels von Giulietta Masina… Der Welterfolg des Films katapultierte auch den Komponisten Nino Rota in die erste Reihe damaliger italienischer Komponisten, populär durch sofort eingängige Filmmusiken. Klassisch ausgebildet, formte Rota die Musiknummern von „La Strada“ zu einer Orchestersuite um.
Der vielfältige Pulsschlag dieser 1966 an der Mailänder Scala uraufgeführten Musik reizt zum Tanz und so holte Münchens Gärtnerplatztheater den Stuttgarter Choreographen Marco Goecke zu einer Ballettfassung des Stoffes. Natürlich musste und wollte sich Goecke von der Wucht der Filmbilder lösen. Um den Kern der Handlung durch Körper- und Tanzsprache zu erzählen, fand er jedoch nur eine durchgängige und von allen Figuren gleichermaßen praktizierte Bewegungssprache: schnelle, zackige Handstöße, Handkantenschläge, Rotation angewinkelter Arme, schnelle Trippelschritte – alles dominant eckig, alles hektisch bis zu befremdlich hyperaktiver Handlungsferne. Die in den Raum gebrüllten italienischen Textfetzen erklärten nichts. Da das der durchgängige Stil für die pausenlosen 80 Minuten blieb, fehlte dem brutalen Muskelmann Zampano, der zerbrechlichen Gelsomina, dem sie liebenden Clown Matto, Zampanos Hure und den anderen Randfiguren jeweils tanztheatralisch eigenes, differenziert sprechendes Profil.
Stilistische Sackgasse
Trotz einiger schöner Momente – wenn etwa die Rivalität zwischen Zampano und Matto durch kämpferisch in den dunklen Raum geblasene Zigarettenrauchfahnen sichtbar wird – führte Goeckes „Strada“-Interpretation in eine stilistische Sackgasse. Michaela Springers dunkel leere Szene, begrenzt mal durch Meereswellen-Stoffbahnen, mal durch einen Getreidestreifen, ihre zeitlos heutigen Kostüme und zwei Zirkuspferd-Imitate erhellten nichts.
Trotz dieser grundlegenden Mankos setzte die Kompagnie des Gärtnerplatzballetts Goeckes Eindimensionalität rhythmisch gestochen scharf um. Verónica Segovia machte im kantigen Bewegungskorsett in wenigen Momenten doch Gelsomina Armseligkeit und Verlorenheit erkennbar. Für den Kraftmenschen Zampano war Özkan Ayik eine mit Bauchmuskel-Six-Pack, Bizeps und Rückenmuskulatur beeindruckend spielende Idealbesetzung: zu ihm passte Goeckes Kantenstil.
Doch der Hauptgewinn des Abends ging an das – mit Genehmigung der Casa Ricordi Mailand - trotz „reduzierter Orchesterfassung“ groß aufspielende Gärtnerplatzorchester unter Michael Brandstätter. Während ein Gutteil der Komponisten nach der Kulturkatastrophe des Faschismus die unterdrückte Moderne in Zwölfton-, Serien-, Schichtung-, Cluster- oder Halb- und Viertelton-Kompositionen nachholte und großen Emotionen misstraute, blieb Nino Rota dem italienischen Melos treu. Über seine Opern- und Symphonik-Kompositionen hinaus verstand er, dass Bühnen- und Film-Musik sofort, im szenischen Moment wirken muss – und das tut sie in seiner „La Strada“-Suite: mit der puccinesk aufwallenden Schmerzwelle des human leuchtenden Gelsomina-Themas, mit Broadway-Sound-Gängigkeit, mit grellen Zirkusmusik-Imitaten (zweimal auch gezielt „kratzig“ via Lautsprecher), mit Marsch, Galopp, Polka oder Quickstepp, alles sehr gekonnt und durchweg ansprechend.
Der Rota-Schüler Riccardo Muti charakterisierte die Musik seines Lehrmeisters als „Sehnen nach etwas Verlorenem, das man haben möchte, aber nicht findet. Aber daneben gibt es immer dieses Lächeln, nicht bitter, sondern melancholisch. Niemals ein vulgäres, offenes Lachen. Rota ist nicht sonnig. Um seine Sonne herum gibt es immer ein bisschen Nebel.“ Diese Bandbreite war zu hören, leider nicht zu sehen.